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Erwin Reisner

Die Juden und das Deutsche Reich

Inhalt

Das Volk des alten Bundes

Die Erwählung Israels

Versuchung und Abfall Israels.

Der König Israel.

Das nachexilische Judentum.

Vor der Entscheidung.

Die Messiashoffnung der Juden.

Die Verwerfung Christi.

Das Ethos des nachchristlichen Judentums.

Die Wurzeln des Judenhasses.

Christen und Juden im spätrömischen Reich.

Der Pakt mit der Welt.

Die Geschichtlichkeit des alten und des neuen Israel.

Der Antisemitismus im christlichen Rom.

De Civitate Dei

Sacrum Imperium.

Reichsidee und Reichsgründung.

Das Volk des Reiches.

Reich und Kirche.

Die Juden im Mittelalter.


 

DAS VOLK DES ALTEN BUNDES

 

Die Erwählung Israels

Nach den Worten des Paulus sind und bleiben die Juden "Geliebte um der Väter willen" (Röm. 11,28) , was für alle Völker, vor allem auch für die "christlichen", bis zur Stunde verbindlich ist. Wer sie antastet, der tastet, wie der Prophet Sacharia (2,12) sagt, Gottes Augapfel an. Geliebte um der Väter willen, das bedeutet zuerst um Abrahams willen, dem Gott verheißen hat: "In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" (Gen. 12,3), also, nicht etwa nur die leiblichen Nachkommen Abrahams allein. Gott hat Abraham berufen und ihm seine Verheißung gegeben, das war eine Tat der Gnade. Abraham hat darauf mit seinem Glauben geantwortet, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet (15,6). Damit erst war er nicht nur berufen, sondern auch erwählt, war er der Vater geworden, von dem gesagt werden kann, dass um seinetwillen alle seine Nachkommen Gottes Geliebte sind, mögen sie sonst was immer sein. Abrahams Glaubensantwort war eine menschliche Tat, die Gott nicht vergisst und nicht vergessen will. Dieser Glaubensantwort verdanken aber nicht nur die leiblichen Kinder Abrahams das göttliche Wohlgefallen, sondern alle, die ebenso glauben wie er geglaubt hat, d.h. aller natürlichen, aller weltlichen und geschichtlichen Wahrscheinlichkeit, ja Möglichkeit zum Trotz.

Abraham antwortet also Gott mit seinem Glauben, und aus diesem Glauben heraus mit seinem Tun, indem er nach dem geläufigen biblischen Ausdruck zum "Fremdling und Pilgrim" wird auf Erden, zum "Hebräer", zum Ausländer kat’ exochén. Er verlässt seine angestammte Heimat und seine Sippe, er löst sich von seinen Vorfahren, er lässt sich gleichsam ins Ungewisse, nämlich allein in die Hand Gottes fallen, er vertraut, obwohl er bereits ein alter unfruchtbarer Mann ist, der Zusicherung, dass er durch sein gleichfalls unfruchtbares Weib Sara noch einen Sohn haben und zum Vater eines großen Volkes, ja vieler Völker werden soll, und er findet sich schließlich ohne Widerrede bereit, den Wundersohn Gott zum Opfer darzubringen. Er nimmt im Auftrag Gottes mit allen seinen männlichen Nachkommen als Bundesmal das Zeichen der Beschneidung an. In diesem ganzen Verhalten Abrahams offenbart sich sein Glaube, d.h. die Gewissheit von etwas, was sich nicht schauen lässt und in schroffem Gegensatz steht zu allem empirisch Schaubaren. Der Glaube hat sein Reich in einer Welt, die dort zur Wirklichkeit wird oder in ihrer Wirklichkeit erscheint, wo die zeitliche Welt, die unsere Sinne kennen und unser Verstand begreift, versinkt und verschwindet zu Ende geht, im eschatologischen Bereich. Glaube im Sinn der Bibel, des Alten wie des Neuen Testamentes, kann somit niemals etwas anderes sein als eschatologischer Glaube.

Der Brief an die Hebräer stellt die Segnung Abrahams durch Melchisedek, den König von Salem (Gen. 14,19) dar als die Segnung, wir dürfen vielleicht auch sagen, als die Inthronisation und Weihe des irdischen Königs durch den ewigen Priesterkönig. Nach dem Bericht kehrt Abraham vom "Krieg der Könige" zurück als sich das ereignet. Der Hebräerbrief (7,1-4) nennt dann Christus einen Hohenpriester nach der Ordnung Melchisedeks, des Königs der Gerechtigkeit und des Friedens. Wenn Abraham von dem übergeschichtlichen, weil seinem Priestertum nach vater- und mutterlosen Melchisedek gesegnet wird, so bedeutet das wohl, dass auch sein besonderes, nur vom Glauben erfassbares Vatertum im Gegensatz steht zur Zeitlichkeit des in die Geschlechterfolge eingereihten Vater- und Königtums. Wie Abraham, bzw. Melchisedek am Anfang, so erscheint der Priester nach der Ordnung Melchisedeks, Jesus Christus, am Ende der Geschichte Israels. Diese zeitliche Geschichte wird damit beiderseits begrenzt von zwei Überzeitlichkeiten und so gleichfalls auf das Überzeitliche hingeordnet. Zu dem König von Sodom, der ihm nach der mit Hilfe seiner gewonnenen Schlacht die erbeuteten Schätze anbietet, sagt Abraham: "Ich hebe meine Hände auf zu dem Herrn, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, dass ich von allem, was dein ist, nicht einen Faden noch einen Schuhriemen nehmen will, dass du nicht sagtest, du habest Abraham reich gemacht." (Gen. 14,22f). Er bekennt sich mit diesen Worten zu Gott, dem Einzigen und nicht zu irgendeinem Volksgott nach Art der Heiden, etwa dem Gott des Königs von Sodom, und eben als der Bekenner dieses unvergleichlichen Gottes hat er nichts mit den Geschäften, den Kriegen und Beutezügen der geschichtlichen Könige zu tun. Er ist sozusagen der König aller Könige, der eschatologische Vater und Weltkaiser.

Trotzdem aber beginnt die eigentliche Geschichte Israels, der Nachkommenschaft Abrahams, Isaaks und Jakobs mit der Selbstoffenbarung Gottes in der Gestalt eines Volksgottes, des Volksgottes seines, des ewigen Gottes erwählten Volkes. "Es geht in dieser (alttestamentlichen) Offenbarung um ein Ja und um ein Nein sowohl zu der Gestalt, die Gott (hier) annimmt wie auch zu dem betreffenden auserwählten Volk. Das Volk Israel ist nämlich auserwählt gerade insofern, als seine Volkheit, seine geschichtliche (empirische) Realität, sein nationales (und politisches) Sondersein aufgehoben erscheint, indem sich der angebetete und anerkannte Volksgott (hinter seiner äußeren Maske) als der wahre (und einzige) Gott enthüllt. Als das Volk, zu dessen Abgott Gottes Gestalt wird, hat das auserwählte Volk, ebenso wie alle anderen Völker auch, ein Ziel in der Zeit. Aber dieses zeitlich-geschichtliche Ziel ist nicht das Ziel des ewig gegenwärtigen Gottes und also auch nicht des Volkes selbst, sofern es auserwählt und begnadet ist; denn die Gnade hebt das Volkstum und mit ihm die Geschichte in die Ewigkeit auf. Der Jahwe des Alten Bundes ist Volksgötze und wahrer Gott, d.h. Gott Israels (allein) und El Schaddai, Schöpfer Himmels und der Erde zugleich. Er trägt die typischen Züge aller heidnischen Gottheiten des archaischen Altertums, aber doch in eigentümlich paradoxer Verkehrung. Darum bleibt der Mosaismus gleich unbegreiflich, wenn man nicht die Realität des Heidentums, und wenn man nicht auf der anderen Seite die wirkliche Offenbarung in ihm erkennt. (Schelling, Werke XIV, 145). Er trägt die Götzengestalt nur als ‚Knechtgestalt’, er sucht nicht den Prunk und den Glanz der Dämonen, die den Menschen dazu verführen, sich in dieser Welt einzurichten, sondern seine Herrlichkeit bleibt im Verborgenen. Es gehört schon zu seiner Knechtgestalt, dass er sich gerade das kleine, unbedeutende und verachtete israelitische Volk und nicht etwa die Ägypter, die Assyrer, die Perser, die Griechen oder die Römer erwählt hatte. Indem er israelitischer Volksgott wird, deckt er die Eitelkeit allen Götzentums, aller nationalen Abgötterei auf."

Wenn Israel Gott nicht nur als seinen Volksgott, also nicht nur seiner besonderen Offenbarungsgestalt nach, sondern als Weltschöpfer, den Herrn über Himmel und Erde, dessen Priester Melchisedek war, versteht, muss oder müsste es sich selber notwendig als das übernationale Menschheitsvolk, mit anderen Worten eschatologisch, auf das Ende der Zeit hingerichtet verstehen, da es ja rein empirisch innerweltlich so etwas wie ein Menschenvolk gar nicht gibt und geben kann. Darum bleibt der Sinn der israelitischen Existenz auch nur im Durchbruch und Zum-Vorschein-Kommen des eschatologischen Wesenskernes erfüllbar, d.h. in der Erscheinung des Menschen- und Menschheitssohnes Jesus Christus. In seinem Werk "Königtum Gottes" will Martin Buber einerseits die Allgemeinheit Jahwes nachweisen, andererseits aber wehrt er sich fast leidenschaftlich gegen die Eschatologisierung des israelitischen Gottes durch das Christentum und befindet sich so im Widerspruch zu sich selber; denn ein innergeschichtliches Volk als solches kann gar niemals das Volk Jahwes sein. Indem Israel, geführt von Gott, die Geschichte durchwandert und durchwandern soll, indem es wie sein Urvater Abraham überall, auch im Lande Kanaan, nur Gastsasse bleiben darf, bedeutet eben das, dass es ohne eigentliches Ziel in der Geschichte aus der Geschichte heraus in das Reich Gottes einzuziehen hätte. Nur im Reich Gottes gibt es das Menschheitsvolk, die ganze Menschheit als das eine Volk Gottes, auf Erden niemals. "Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein, vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich sein und ein heiliges Volk." (Ex.19, 5-6a). Damit wird gesagt, dass Israel ein Priestervolk, ein Mittlervolk werden soll, ein Priestervolk natürlich für die anderen Völker, für die Menschheit als Gottes große Gemeinde. Ein Priester ohne Gemeinde, ein Mittler ohne den zu Vermittelnden wäre ja sinnlos.

Für die Tatsache, dass Jahwe, der Gott Israels als solcher der Gott aller Völker ist, sprechen etwa die Worte Jes. 19, 25: "Denn der Herr Zebaoth wird sie segnen und sprechen: Gesegnet bist du Ägypten, mein Volk, und du Assur, meiner Hände Werk, und du Israel, mein Erbe!" Im gleichen Sinn darf Paulus, der Theologe des NT als Interpret des AT von Christus, dem Auferstandenen her sagen (Röm. 15, 10): "Und abermals spricht er: Freut euch, ihr Heiden (Völker) mit meinem Volk!" Die Anerkennung Gottes als des All-Einigen bedeutet unausweichlich die Selbstaufgabe des von ihm erwählten Volkes als dieses empirischen Einzelvolkes.

Was von Israel in der Erbfolge Abrahams, des Vaters vieler Völker (Gen. 17, 4), gefordert wird, ist der Glaube, dass dieser, sich ihm in der Volksgottesgestalt zeigenden Deus absconditus in Wahrheit der Deus revelatus ist, so wie bereits Abraham in dem scheinbar grausamen, das Isaakopfer befehlenden, den gnädigen, das Opfer erlassenden Gott, oder Jakob in dem mit ihm bei Pniel ringenden feindlichen dämonischen Mann den ihn segnenden Engel, und am Ende des Alten Testamentes Jesus, der Gekreuzigte in dem ihn zum Tod verurteilenden unerbittlichen Richtergott den liebenden Vater erkennt. In solcher Umkehrung des Geglaubten geradezu in sein Gegenteil vollzieht sich aber auch die Umkehrung des Glaubenden aus seiner empirischen in seine eschatologische, aus seiner Sterblichkeits- in seine Auferstehungsgestalt.

Unter den besonderen Kennzeichen Abrahams, des Erwählten Gottes wurde auch die Beschneidung erwähnt. Die Beschneidung, eine auch heute noch weit verbreitete und keineswegs auf Israel beschränkte Sitte, erhält hier demnach einen ganz neuen und von allem heidnischen Brauch durchaus abweichenden Sinn. Israel soll das Menschheitsvolk sein, d.h. von der anderen Seite betrachtet, es sollte ein Nicht-Volk oder kein Volk im natürlichen Sinn sein, ein Volk ohne sicheren dauernden angestammten Wohnsitz, seine Heimat sollte nach irdischen Begriffen eine Nicht-Heimat, Fremde, Ausland sein. Der Auszugsbefehl von Gen. 12 trifft nicht bloß Abraham, sondern ausnahmslos jeden Menschen, sofern er den Anruf Gottes vernimmt: Du sollst diese außerparadiesische Welt, diese Wüste, dieses Babel verlassen, hinter dir lassen, du sollst hier kein Zuhause haben und das eben um des Paradieses willen, für das du eigentlich allein geschaffen bist, auch noch als der daraus Vertriebene. Zur irdischen Heimat gehört aber auch der geschlechtliche Zusammenhang mit den Vorfahren und Nachfahren, mit den Eltern und Ureltern, mit den Kindern und Enkeln. Darum ist ja Abraham bereit, seine Sippe zu verlassen und zu opfern. Eben darauf hin deutet auch die Beschneidung als symbolische Entmannung, als gleichnishafter Verzicht auf leibliche Nachkommen. Nur der Abraham, der diesen Verzicht leistet, ist fähig, Vater vieler Völker, aller Völker zu werden, Vater der eschatologischen Gemeinde, dem Gott auch aus Steinen Kinder erwecken kann. Wer auf leibliche Erben Wert legt, kennt nur die zeitliche Zukunft, wer die leibliche Abstammung allein schätzt, nur die historische Vergangenheit, und beide verfehlen damit die Ewigkeit des Gottesreiches. Bei den Heiden bedeutet die Beschneidung, wo sie geübt wird, das genaue Gegenteil. Hier soll ein Teil für das Ganze (pars pro toto) dem Volksgott geopfert werden, damit dieser gnädig gestimmt wird und für eine zahlreiche natürliche Nachkommenschaft sorgt, weshalb z. B. häufig bei gewissen Naturvölkern die Ausheilung der Beschnittenen in einer wilden Orgie mit wahlloser Vermischung gefeiert wird. Der Israelit aber deutet durch das Zeichen der Beschneidung, wenn er es recht versteht, an, dass ihm, der an einen Volksgott glaubt, der tatsächlich gar kein Volksgott ist, an den leiblichen Erben nichts liegt, weil weine wahre Erbschaft anderswo als auf der Linie zeitlicher Zukünftigkeit zu suchen ist. So weist hier dasselbe Gleichnis, das für den Heiden Merkmal seiner Volkszugehörigkeit, seiner Bindung an die Sippe ist, über alles bloßes Volkstum weit hinaus.

Der Heide verfügt über seinen Gott, er handhabt ihn, auch und gerade dann, wenn er ihn fürchtet. Seine Gebete, seine Opfer, seine Riten sind nichts anderes als magische Veranstaltungen, die den an sich im Grunde immer menschenfresserischen Gott milder stimmen, gefügig machen und irgendwie sättigen, seine Blutgier stillen sollen. Mit der heidnischen Beschneidung verhält es sich ebenso. Man wirft dem Gott einen kleinen Teil des männlichen Zeugungsorgans in den Rachen, wie die Erstgeburt in den glühenden Bauch des Molochs, damit er, so notdürftig befriedigt, die natürliche Fortpflanzung nicht weiter stört und den Bestand der Sippe zulässt. Für den Heiden ist somit sein Gott wirklich sein Gott, der Gott seines Volkes. Der Israels dagegen ist in Wahrheit gar nicht der Gott Israels, vielmehr ist Israel sein Volk, und da eben kehrt sich alles um, wenn es auch zunächst scheinen könnte, als ob alles genau so wäre wie den Heiden. Das gilt auch von der Beschneidung da und dort. Der Heide ist beschnitten, weil er die Zeugung so hoch schätzt, dass er für sie gewisse, nicht allzu bedeutende Opfer zu bringen bereit ist, der Israelit, weil er, wenigstens nach dem Willen Gottes, die Zeugung gering schätzt, für nebensächlich oder gar für überflüssig hält. Gewiß wird dem Abraham gleichfalls eine zahlreiche Nachkommenschaft verheißen, aber eine Nachkommenschaft von solcher Art wie er sie sich als natürlicher Mensch niemals hätte träumen lassen, nämlich eine Nachkommenschaft von Kindern des Glaubens, so wie bereits Isaak, dann später der Täufer Johannes und am Ende der Sohn der Jungfrau Maria, Jesus, Kinder des Glaubens waren, gezeugt und geboren nach der Ordnung Melchisedeks, des Königs der Gerechtigkeit und des Friedens.

Auf die von uns schon angedeutete Schriftstelle Deut. 7,7 wurde von christlichen und auch von jüdischen Theologen häufig genug hingewiesen: "Nicht hat euch der Herr angenommen und erwählt, darum, dass euer mehr wäre als alle Völker; denn du bist das kleinste unter allen Völkern". Mit der Erwählung dieses kleinsten Volkes ist bereits alle irdische Größe entthront und entmachtet, nicht etwa nur die Größe der Zahl, auch die Größe des menschlichen Geistes, der menschlichen Kultur, der menschlichen Weisheit usw. Es gibt noch immer Juden, die zwar die zahlenmäßige Kleinheit, sowie die politische Ohnmacht ihres Volkes sehr wohl erkennen - wie sollten sie auch nicht! -, sich aber trotzdem, wenn sie noch sehr religiös sind, vor den anderen ihrer Erwähltheit rühmen oder, wenn ihre Religiosität schon ins Theoretische und Psychologische abgeglitten ist, wenigstens der religionsphilosophischen "Genialität" ihrer Vorfahren, die als erste von allen Menschen die monotheistische Idee in ihrer ganzen Reinheit konzipiert, wenn nicht gar den einen wahren Gott "entdeckt" hätten. Sie merken nicht, dass damit alles auf den Kopf gestellt und Gott abermals, wie bei den schlimmsten Heiden, in eine Funktion des Menschen verwandt wird. Diese Juden verhalten sich ähnlich wie der daheim gebliebene Sohn dem verlorenen und wieder heimgekehrten Bruder gegenüber sich verhält und solcherweise selbst zum eigentlichen verlorenen Sohn wird. Hier steckt, "vom Juden her zu sehen", die einzige tiefste Wurzel des Antisemitismus. Ich sage ausdrücklich "vom Juden her"; denn vom Christen her hat der Antisemitismus eine ganz andere Wurzel, die auch dem Christen zur Last fällt, wie wir später noch sehr deutlich erkennen werden. Wenn, wie früher gesagt wurde, mit der Erwähnung Israels alle irdische Größe entthront und entmachtet wird, so ist damit selbstverständlich nicht nur die irdische Größe Israels selbst, sondern ebenso die aller übrigen Völker, der großen und der kleinen, die Größe aller Volksgötter, aller Kulturgötzen, aller "Baale" gemeint. Die Existenz Israels allein und sein bloßer Anblick stellt die nationale Selbstherrlichkeit, die nationale Größe der Heiden in Frage. Wer Israel sieht und sein Wesen auch nur ahnt, dem müssen seine eigenen Werte fragwürdig und zweifelhaft erscheinen, für den beginnen alle Abgötter auf ihren Sockeln zu schwanken, und das kann kein Heide dem Juden so leicht verzeihen. Er sieht sich ja in ihm gerade dort bedroht, wo er seine heilige Substanz zu haben glaubt, und so wird er, indem er diese Substanz festzuhalten sucht, unvermeidlich zum glühenden Antisemiten. Hier sieht dann er sich in der Rolle des Daheimgebliebenen und den Juden in der des verlorenen Bruders.

Die grundsätzliche Zweideutigkeit Israels als des erwählten Gottvolkes wie auch die Zweideutigkeit des dieses Volk sich erwähnenden Gottes in Gestalt eines Volksgottes lässt sich ungefähr am Bild eines auf die Ebene projizierten Würfels oder überhaupt dreidimensionalen Körpers darstellen. Die Figur, die wir da vor Augen haben, ist zunächst ganz gewiß nichts weiter als ein rein planimetrisches Gebilde, das mit einem stereometrischen noch gar nichts gemein hat und damit auch ganz und gar den Gesetzten der Planimetrie unterliegt, bzw. sich aus ihnen erklären und berechnen lässt. Trotzdem gewinnt es in den Augen des Zeichners seinen eigentlichen Sinn erst im dreidimensionalen euklidischen Raum und nicht als Flächengebilde. Es ist also ein an sich körperliches Ding sozusagen in der Sprache der Planimetrie ausgedrückt oder in diese Sprache notdürftig übersetzt. Genau so ist Israel an sich das eschatologische Gottesvolk in der Sprache der natürlichen Ethnologie und der Gott Israels an sich der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde in der Sprache der natürlichen (heidnischen) Theologie ausgedrückt, bzw. in diese übersetzt. Das Gleiche gilt von den dem erwählten Volk seit Abraham gegebenen Verheißungen: sie weisen in zeitlicher Sprache auf eine zeitjenseitige eschatologische Zukunft hin. Sie sagen "morgen", als ob sie das Morgen der historischen Zukunft meinten, während sie tatsächlich das Morgen nach allem zeitlichen Heute und also das ewige Heute meinen.

Der deutsch-jüdische Dichter Karl Wolfskehl, der Freund Georges und Hugo von Hofmannsthals schreibt in einem, von der "Frankfurter Zeitung" am 29. März 1931 veröffentlichten Aufsatz: "Als Quelle und Ausgang des jüdischen Wesens habe ich auf einen innerlichen Urgegensatz gewiesen, der das jüdische Fatum selber sei, bereits im ersten der Altväter, in Abram-Abraham sich kundmache, das von da ab Wesen und Schicksal der Judenheit und jedes einzelnen Juden bestimme und lenke. Ein Urgesetz, der Fluch ist und Segen zugleich." Der Urgegensatz Abram-Abraham fällt zusammen mit dem Gegensatz Volk-Menschheit, irdische Gemeinschaft/himmlische Gemeinde, Geschichte-Ewigkeit, futurum temporis-futurum aeternum und selbstverständlich auch praeteritum temporis-praeteritum aeternum, Vergänglichkeits-Gegenwart als Dauer. Dieser jüdische oder israelische Zwiespalt ist unabdingbar gegeben mit der Erwählung; denn im Augenblick, da der sterbliche Mensch Abram von Gott den Namen Abraham erhält und so das Stigma des erwählten Gottesmannes empfängt, ist er auch schon der Zwiespältige, der Gebrochene. Seine Nachkommenschaft, das Volk Israel trägt dieses Stigma durch die ganze Geschichte bis zum Jüngsten Tag. Es ist zwiespältiger als jedes andere Volk (ausgenommen vielleicht, obgleich aus ganz anderen Gründen, das deutsche), seine Auserwähltheit wird ihm zur schweren Last und in besonderer Weise zur ständigen Versuchung, sie zu säkularisieren, was aber niemandem das Recht gibt, daraus einen Vorwurf abzuleiten. Wer das Geheimnis der israelitischen Erwähltheit versteht, wird kein Verdammungsurteil wagen, sondern vor diesem Geheimnis nur ehrfürchtig erschrecken. Es bleibt das vorgezeichnete Schicksal Israels, nach dem Gesetz leben zu sollen und danach doch nicht leben zu können; denn sehr im Gegensatz zur Ethik Kants gilt der Satz: Du kannst nicht; denn du sollst. An diesem Widerspruch muss ausnahmslos jedes natürliche Volk wie jeder natürliche Mensch zerbrechen. Niemand kann das Gewicht der Erwählten aushalten, und so lebt Israel gerade in seiner Zerbrochenheit den Anderen vor, was sie, ohne etwas davon zu wissen, gleichfalls sind. Das Gesetz wurde auf dem Sinai nicht gegeben, weil die Möglichkeit bestand, es zu erfüllen, es ist vielmehr "neben eingekommen, auf dass die Sünde überhand nehme". (Röm. 5, 20) und so als die eigentliche Natur der gefallenen Menschheit offenbar werde. Nur aufgrund solcher Offenbarung kann dann auch das Zweite und Wichtigere offenbar werden: die Erlösung. Das sind freilich Behauptungen, die dem modernen Menschen nicht leicht eingehen. Er muss schon versuchen, sie dem leidenschaftlichen Widerspruch seiner Alltagsvernunft zum Trotz einfach gelten und wenigstens als vorläufige Hypothese stehen zu lassen.

Der jüdische Zwiespalt ist also der Zwiespalt nicht nur des Juden allein, sondern des gefallenen und aus dem Paradies vertriebenen Adam überhaupt, er muss aber im erwählten, im herausgehobenen, im Ecce-Homo-Menschen mit letzter Krassheit zum Vorschein kommen. Durch ihre Erwähltheit werden die Israeliten keineswegs zu besseren Menschen, besser als die übrigen, aber doch zu solchen, die das in unserer Welt typisch Menschliche besonders deutlich erkennen lassen. Sie tragen sichtbar die ganze Bürde des unerlösten und erlösungsbedürftigen Menschentums. Von ihnen gilt tatsächlich: "Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen." (Jes. 53, 4). In ihrem Schicksal ist das des aus ihnen hervorgegangenen Messias Jesus, auf den hin die christliche Theologie bekanntlich diese Prophetenworte deutet, bereits vorweggenommen. Darum konnte etwa der Dichter Franz Kafka, der in seinen Romanen zunächst sicher die Problematik der jüdischen Existenz darstellt, zu einem Dichter der allgemeinen menschlichen Problematik werden.

 

Versuchung und Abfall Israels

 

Der Kampf, den Israel im Auftrag Jahwes gegen die fremden heidnischen Völker und ihre Götter führt, meint im Tiefsten "den Kampf gegen das Volksprinzip (und Volksgottesprinzip) überhaupt, also auch vor allem gegen das Volksprinzip Israels selbst, das ja nur als eschatologisches Volk im uneigentlichen oder bloß vorläufigen Sinn angenommen und auserwählt ist. Deshalb richtet sich auch der religiös qualifizierte Vernichtungskrieg (z. B. Sauls gegen Agag, I. Sam. 15) nicht gegen vollkommen fremde Völker, sondern gegen die Verwandten, hauptsächlich gegen den Zwillingsbruder Esau (Edom bzw. Amalek), denn eben von dorther droht den Söhnen Jakobs ständig die Versuchung, sich in ihrer nationalgeschichtlichen (unbeschnittenen oder im falsch verstandenen Sinn beschnittenen) Gestalt, und das heißt eben in ihrer Abgötterei absolut zu setzen. Indem Israel (wie es von ihm gefordert ist) sich als (natürliches) Volk aufgibt, pflanzt sich seine Selbstaufgabe auch auf seine Verwandtschaft fort, und diese weiter ausgreifende Selbstaufgabe stellt sich (in der eigentümlichen indirekten Sprache des Alten Testamentes) dar als Ausrottung Amaleks.

Missversteht Israel die Identität seines Gottes mit dem All-Einen im nicht-eschatologischen Sinn, also so, dass es sich als dieses innerweltliche und innergeschichtliche Volk zur Herrschaft über andere Völker, vielleicht sogar über alle Völker berufen glaubt, dann ergibt sich daraus ungefähr die Formel: "Am jüdischen Wesen soll die Welt genesen", so wie dann Jahrtausende später Fichte und zuletzt in extremer Gestalt der Nationalsozialismus sagen zu dürfen meinte: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!" Den ersten Schritt in dieser Richtung tut Israel aber bereits, indem es Jahwe einfach als seinen Volksgott und als nichts außerdem zu fassen unternimmt, und das geschieht mit der Aufrichtung und Anbetung des goldenen Jungstiers oder Stierkalbes in der Wüste Sinai. Der Stier ist überall im Altertum Inbegriff und Sinnbild männlicher Zeugungskraft, also gerade dessen, was durch die Beschneidung seiner Bedeutung nach in Frage gestellt werden soll. Der Gott Israels verabscheut darum auch die den Heiden so geläufige religiöse Orgiastik. Der Stierkult ist immer Phalluskult, und so feiert auch Israel, indem es das goldene Stierbild umtanzt, seine Orgie.

Die Anbetung des selbstgemachten, dem Gott Israels gleichgesetzten Götzen, vom Hohenpriester Aaron, dem Bruder des Moses, also von der "Kirche" selber gebilligt, ja gefördert, ist sozusagen der dritte Sündenfall des Menschen im bereits bestehenden Zustand der Gefallenheit, im status corruptionis, nach jener Sünde, auf die die Sintflut folgte, und nach der zweiten allgemein menschlichen Sünde des Turmbaus zu Babel. Aber wie der erste und zweite, so war auch der dritte nachparadiesische, diesmal auf das erwählte Volk beschränkte Sündenfall unvermeidlich, weil die Menschheit außerhalb des Paradieses der Zeit verfallen ist und sich so in einem unaufhaltsamen Sturz befindet bis hin zum Ende der Geschichte. Die Israeliten haben da nicht in besonderer Weise, sondern nur ebenso wie alle übrigen auch gesündigt. Die Tafeln, die Gott eigenhändig beschrieben hatte und die Moses zerschmetterte, mussten zerschmettert werden, weil sie von den Menschen, so wie diese einmal waren, gar nicht mehr verstanden und gehalten werden konnten. Vermutlich stand auf der ersten Tafel nichts weiter als: "Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt", und auf der zweiten: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Aber dafür hatte die gefallene Menschheit keine Ohren, sie vermochte diesen beiden Geboten nicht mehr nachzukommen, und so eben musste ihr, der die Liebe fremd geworden war, der Wille Gottes, der mit seiner Liebe zusammenfällt, in der Verhüllung der neuen, in einer harten menschlichen Sprache geschriebenen Tafeln dargeboten werden, in einer Sprache, die dem natürlichen Volkstum und dem heidnischen Volksgottestum angemessen war.

Nach Ex. 32, 27 trägt Moses, nachdem er das Götzenbild zerstört hat, den Leviten, dem Priesterstamm, seinen eigenen und seines Bruders Aaron Stammesgenossen auf, durch das Lager zu gehen und ihre "Brüder, Freunde und Nächsten" mit dem Schwert zu töten, "und es fielen des Tages vom Volk dreitausend Mann." Wir heute sehen darin leicht eine furchtbare Ungerechtigkeit, dass die Leviten, die ja selbst mit ihrem Hohenpriester Aaron an der Spitze mindestens mitschuldig waren am Abfall des ganzen Israel zur Abgötterei, nun zum Henker über die anderen eingesetzt werden. Aber der Henker, wir wissen das ja nun schon, ist durchaus keine ehrenwertere Gestalt als der Gehenkte. Beide stehen unter dem gleichen Fluch. Der Priester, also der Mann des Stammes Levi, mordet hier statt zu segnen. Das ist für ihn eine ebenso harte Strafe wie der Tod für den Gemordeten, und indem er den Mordbefehl ausführt, sich gegen seinen natürlichen Willen am Leben seiner Volksgenossen vergreift, wird der Priesterstamm wieder eingesetzt in seine geistliche Gewalt, die er durch die Aufrichtung des Volksgötzen verloren hatte. Indem der Levit als der berufene Mittler zwischen Gott und Volk hier tötet, tötet er das Unpriesterliche, das Götzendienerische an sich selber. In solchem Sinn hat man die alttestamentliche Heilsgeschichtsschreibung zu verstehen, und von da aus fällt auch noch ein Licht auf die harten Worte Jesu: "So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein." (Luk. 14, 26). Hier wie dort im Auftrag an die Leviten geht es um nichts anderes als um das Geheimnis des Beschneidungsgebotes an Abraham.

 

Der König Israels

 

Die Anbetung, sowie der Kult des goldenen Stierkalbes in der Wüste zwischen Ägypten und Kanaan nimmt alle künftigen Sünden des erwählten Volkes vorweg und schließt sie bereits in sich, so vor allem die Forderung nach einem König wie ihn alle Völker haben, von dem Ansinnen an Gideon angefangen, von dem noch zu sprechen sein wird, bis hin zum jüdischen Zionismus der allerjüngsten Zeit. Dieses Problem behandelt auch Martin Buber in seinem berühmten Buch vom "Königtum Gottes". Indem die Israeliten einen menschlichen König haben wollen und von der Theokratie in die Säkularität abgleiten, lehnen sie sich schon gegen den eigentlichen "König der Juden", Jesus Christus auf und verurteilen ihn zum Tode am Kreuz; denn "nur auf den König hin, der sich als (irdischer) Mensch seiner Majestät (ja seiner selbst) entäußert (und Knechtsgestalt annimmt), ist Israel das auserwählte Volk." Die Entscheidung für einen König nach Art der Heiden ist die Entscheidung gegen den in Armut und Niedrigkeit erscheinenden Messias, oder, wie man auch sagen könnte: mit dieser Entscheidung wird die Geschichte Israels entheiligt und wird es dem verheißenden Messias unmöglich gemacht, in dieser Geschichte etwas von seiner Herrlichkeit zu zeigen.

Im Buch Samuels (8, 5) wird berichtet, dass die Ältesten in Israel zu ihrem Richter Samuel kamen und von ihm verlangten: "Setze nun einen König über uns, der uns richte wie alle Heiden haben", und weiter: "Es soll ein König über uns sein, dass wir auch seien wie alle Heiden, dass uns unser König richte und vor uns her ausziehe und unsere Kriege führe" (19). Das bedeutet, das Volk will so sein wie die anderen Völker, es will sich jenen "assimilieren", aus denen es doch herausgehoben wurde, um Gottes eigenes Volk zu sein, es will sich der Objektivität des Andersseins anpassen und sich seiner Subjektivität, in der es unmittelbar zu Gott ist und vor ihm in Verantwortung steht, entschlagen. Zu Samuel sagt Gott in diesem Zusammenhang: "Sie tun dir wie sie immer getan haben, von dem Tag an, da ich sie aus Ägypten führte, bis auf diesen Tag, und sie mich verlassen und anderen Göttern gedient haben." Der Wunsch nach einem König wie ihn die anderen auch haben, ist also im Tiefsten der Wunsch nach Götzendienst, wobei es nebensächlich bleibt, ob der Götze ein fremder oder der eigene Gott ist. Man denkt hier übrigens schon an die bekannten Worte Jesu: "Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind." (Matth. 23, 37).

Das erstemal wir das Verlangen nach einem König unter dem Richter Gideon laut: "Da sprachen zu Gideon etliche in Israel: Sei Herr über uns, du und dein Sohn und deines Sohnes Sohn, weil du uns von der Midianiter Hand erlöst hast. Aber Gideon sprach zu ihnen: Ich will nicht Herr sein über euch, und mein Sohn soll auch nicht Herr über euch sein, sondern der Herr soll Herr über euch sein." Zu dieser Ablehnung der Herrscher- oder Königswürde durch Gideon äußert sich Martin Buber gleich am Anfang seines erwähnten Buches: "Das ist, da es nicht eschatologisch, sondern historisch, nicht als Weissagung, sondern als politische Kundgebung geschieht, ein geradezu geschichtswidriges Wagnis." Geschichtswidrig ist dieses Wagnis ganz gewiss, aber eben darum nicht historisch und nicht politisch, sondern - was Buber als nachchristlicher Jude freilich nicht wahr haben will und gar nicht wahr haben wollen kann - durchaus und nur eschatologisch zu verstehen. Indem nämlich ein historisches Volk Gott allein als seinen eigentlichen und einzigen Herrn anerkennt, verleugnet es auch schon sein historisches Volkstum, weiß es sich aus der Geschichte heraus -, und auf das ewige Gottesreich hingewiesen, in dem das Gesetz der Sünde und des Sündenfalls aufgehoben ist. In der Geschichte als solcher gibt es keine Theokratie, und wo sie trotzdem gefordert wird, wird das Nein zur Geschichtlichkeit und ihrer unabdingbaren Natur gesprochen. Wie Gideon selbst seinen Spruch psychologisch verstanden haben mag, ob historisch oder eschatologisch, das bleibt für uns völlig uninteressant, seinem verstandenen oder missverstandenen Sinn nach ist der Spruch unter allen Umständen eschatologisch gemeint. Buber will eben die innerweltliche Auserwähltheit Israels festhalten; denn sonst hätte er keine Möglichkeit, sein Judentum vor dem rein eschatologischen Anspruch des Neuen Testamentes zu behaupten, sonst müsste er selbst augenblicklich Christ werden.

Im Vorwort des Buches schreibt Buber: "In Israel, . . . aber nicht in Israel allein - ist zuvor immer Geschichtshoffnung; sie eschatologisiert sich erst durch die wachsende Geschichtsenttäuschung. In diesem Vorgang bemächtigt der Glaube sich der Zukunft als der unbedingten Geschichtswende, sodann als der unbedingten Geschichtsüberwindung. Von da aus erklärt sich, dass die Eschatologisierung jener aktuell geschichtlichen Vorstellungen ihre Mythisierung einschließt." "Das echte eschatologische Glaubensleben ist - in den großen Wehen der Geschichtserfahrungen - aus dem echten geschichtlichen Glaubensleben geboren; jeder andere Ableitungsversuch mißkennt sein Wesen." Das klingt zunächst durchaus plausibel, es geht leicht, vielleicht allzu leicht ein und hat sogar in gewissen Grenzen und unter gewissen Vorbehalten auch seine Richtigkeit. Man muss aber doch fragen: Woran liegt es eigentlich, dass ein ursprünglich geschichtlich Geglaubtes und Erhofftes seine Glaubwürdigkeit und Hoffbarkeit allmählich verliert, also alle Erwartungen enttäuscht und so, um dennoch glaubwürdig und hoffbar bleiben zu können, ins Eschatologische transportiert werden muss? Warum also enttäuscht überhaupt die "wirkliche" Geschichte den Glauben und die Hoffnung, und was heißt "wirkliche Geschichte"? War der geschichtliche oder ist der eschatologische Glaube in einem Irrtum befangen? Darauf kann Buber offenbar keine zureichende Antwort geben; denn aus seiner Darstellung scheint doch hervorzugehen, dass der glaubende und hoffende Mensch die Geschichte zunächst mit Illusionen belastet, die sich dann später einmal als "ideologischer Überbau" oder dergleichen erweisen, so dass man sie, will man trotzdem an ihnen festhalten, notgedrungen in eine transzendente Wirklichkeit, eben in den eschatologischen Bereich verlegen muss. Wir meinen dagegen, dass Geschichte und Geschichtlichkeit diesseits und jenseits der Enttäuschungsgrenze gar nicht dasselbe sind. Eine geschichtliche, auf religiöse oder metaphysische Erfüllung gerichtete Hoffnung ist insolange durchaus legitim, als das konkrete Geschichtsverständnis und mit ihm die wirkliche Geschichte selbst sozusagen metaphysisch offen sind und insofern auch tatsächlich erfüllungsmächtig bleiben, so dass in ihnen auch das Wunder seine Möglichkeiten hat. In dem Maß aber, in dem sich das Zeit- und Geschichtsdenken rationalisiert oder - was dasselbe sagt - säkularisiert, verliert es die Fähigkeit, das Wunderbare zu fassen, weshalb nun die Verlagerung aller Verheißung in den eschatologischen Raum sich von selber ergibt. Was sich also hier ändert, ist in Wahrheit der Charakter der empirischen Geschichte, ein Prozess, der allerdings innerhalb der gefallenen Welt weder aufgehalten noch gar umgedreht werden kann; denn der gefallene Mensch bewegt sich ja von Gott weg statt auf ihn hin, das heißt mit anderen Worten: er stirbt, er verfällt mehr und mehr der Zeit, "die Zeit wird Herr", sie wird zunehmend zeitlicher und verdrängt aus sich das Lebendige, Unvergängliche und Gegenwärtige, die Voraussetzung jeder Erfüllung und alles Wunderbaren, das sich selbst damit in die Überzeitlichkeit, in das Eschatologische zurückzieht, wohin ihm nur der Glaube und die Verheißungshoffnung zu folgen vermögen. Wenn wir also Buber darin Recht geben, dass er die geschichtliche Hoffnung an den Anfang stellt, so doch nur mit dem Zusatz, dass jene Geschichtlichkeit des Anfangs noch eine andere und relativ wirklichere war, nämlich eine seinsträchtigere als unsere heutige und überhaupt spätere.

Nach dieser Abschweifung kehren wir wieder zurück zum Problem des israelitischen Königtums. Die Israeliten fordern, wie gesagt, ihren Richter Gideon, den Sieger über die Midianiter, nicht nur auf, selber ihr Herrscher zu werden, sondern darüber hinaus auch, die Herrschaft an seinen Sohn und an seinen Enkel weiterzugeben, sie wollen demnach die Erbmonarchie, was eine weitere Verschärfung ihres Wunsches bedeutet. Das dynastische Prinzip bleibt selbstverständlich unvereinbar mit dem Gesetz, nach welchem das Volk Abrahams, Isaaks und Jakobs angetreten war, mit dem auf göttliches Geheiß beschnittenen Volk, zu dem in Deut. 33, 9 gesagt wurde: "Wer von seinem Vater und von seiner Mutter spricht: Ich kenne ihn nicht und von seinem Sohn: Ich weiß nicht, die halten deine Rede und bewahren deinen Bund." (In diesem Sinn antwortet noch Jesus dem Mann, der ihm meldet: "Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir reden.": "Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?" (Das alles gilt wie von jedem einzelnen Israeliten, natürlich und sogar erst recht von dem das ganze Israel repräsentierenden König, sofern ein solcher überhaupt geduldet werden kann).

"Den unmittelbaren Anstoß hierzu gibt", nämlich zur Königsforderung nach Martin Buber (Reden über das Judentum) "ein Vergehen Samuels selbst gegen den Sinn der Gemeinschaft . . . Samuel . . . macht seine unwürdigen Söhne zu Richtern und führt so ein fremdes Prinzip, das der erblichen Führung, in die Gemeinschaft ein. Nunmehr will diese sich des Prinzips völlig bemächtigen und verlangt einen König, wie ihn alle Völker haben. Und auf alle Mahnungen und Warnrufe der Alten weiß die Menge nur eins zu antworten: wir wollen sein wie alle Völker." Das dynastische Prinzip kommt für das wahre Israel nicht in Betracht, im Hinblick nicht nur auf das Zeichen der Beschneidung und Abrahams gehorsamen Gang nach Moria, sondern auch auf die Opferung der Tochter Jephtas, eine Handlung, die nur unter diesem Gesichtspunkt den Anschein einer furchtbaren barbarischen und sinnlosen Grausamkeit verliert. Die Tochter ist, wie ausdrücklich erwähnt wird, das einzige Kind des unglücklichen Mannes und so macht er sich, indem er sie opfert, jede, auch die weibliche Erbfolge unmöglich. Man denkt hier unwillkürlich an die Opferung der Iphigenie in Aulis durch ihren Vater Agamemnon als an eine Parallele, aber jede Sinngleichsetzung wäre durchaus verfehlt; denn Agamemnon opfert seine Tochter aus Ehrgeiz im Blick auf den noch ausstehenden kriegerischen Erfolg, das Opfer des Jephta dagegen ist ein vom Vater gar nicht gewolltes, ja in äußerstem Schmerz betrauertes Dankopfer für den ihm von Gott geschenkten Sieg über die Feinde Israels. Jephta opfert alles, was er hat, ohne irgend eine Aussicht, dafür jemals belohnt zu werden. Agamemnon wird, indem er seine Tochter töten lässt, schuldig und zieht sich den unversöhnlichen Hass seiner Gattin Klytämnestra zu, die ihn dann nach erstrittenem Sieg auch ermordet. Er selber ist gewissermaßen das ungewollte Dankopfer für diesen Sieg über Troja. Jephta muss erkennen, dass der Gott, dem er den Sieg verdankt, kein Gott geschichtlicher Erfolge, kein Gott zeitlich-zukünftiger Größe ist. Darum hat auch jener Dichter unserer Tage, der die Gattin Jephtas ähnliche wie Klytämnestra mit ins Spiel zu bringen versuchte, den tieferen Sinn der biblischen Erzählung grundsätzlich verfehlt.

Man wird freilich zugeben müssen, dass die Erbmonarchie einen ambivalenten Charakter oder ein doppeltes Gesicht hat, je nach dem ob sie in ihrem Verhältnis zur Theokratie oder zum Caesarentum, bzw. zur bürgerlichen Republik beurteilt wird. Gemessen an der Theokratie tritt ihr zeitlich-geschichtlicher Charakter vor allem in das Blickfeld, dem Caesarismus, der Diktatur wie auch der Demokratie gegenüber trägt sie aber immerhin noch einen Hauch des Bleibenden, der Ewigkeit in die Zeitlichkeit hinein. Das Dynastische hat einen antiindividualistischen Zug, und der Antiindividualismus hat seine positive und seine negative Seite. Er ist nämlich einerseits über-individualistisch aus Herkünftigkeit und andererseits geschlechtsegoistisch auf das Morgen ausgerichtet. So weiß sich der Einzelne dort dem Überkommenen verpflichtet, während er hier das von ihm selber Geschaffene erhalten wissen will. Dort wird die Last des Vaters, vielleicht des Vaters Abraham übernommen, hier wird umgekehrt die eigene Last den Söhnen und Enkeln aufgebürdet. Dort wird um einer Vergangenheit willen Verzicht geleistet auf eigenen individuellen Lebensgenuss, wenn möglich auch noch über den eigenen Tod hinweg festzuhalten.

Der positive Charakter des dynastischen Prinzips interessiert uns aber nicht, solange es sich um die Abfallsgeschichte Israels handelt. Hier ist ganz allein die Feststellung wichtig, dass der König und das heißt die weltliche Macht um so weltlicher und unheiliger wird, je erblicher sie ist; denn Erblichkeit bedeutet mit Ewigkeit verwechselte Dauer in Zeit und Geschichte. Es verhält sich mit ihr ebenso wie mit der rein blutmäßigen Abstammung von Abraham, der gegenüber gesagt wird, dass Gott dem Abraham auch aus den Steinen Kinder erwecken kann. Die ersten Könige Israels sind darum auch nicht Vater und Sohn, sie werden vielmehr als Einzelne im Auftrag Gottes selbst von Samuel gesalbt.

Die Problematik der Erbmonarchie taucht später auch im "christlichen" Reich des Abendlandes wieder auf. Das christliche Gegenstück zum dynastischen Verständnis des Herrschertums war die absolut keusche und somit kinderlose Ehe Heinrichs II. (1002 - 1024) mit seiner Kaiserin Kunigunde. Der Akzent auf Dynastie, auf dem Zusammenhang der Geschlechterfolge, bleibt immer heidnisch. Der Christ kennt die Todverfallenheit alles Herkünftigen und Hinkünftigen in der Zeit, er ist ausgerichtet auf die eschatologische Zukunft der Auferstehung jenseits des Kreuzes. Was dem natürlichen Menschen notwendigerweise wertvoll erscheinen muß, gehört für den gläubigen Christen wie für den wahrhaft gläubigen Israeliten des AT zum Überwundenen und Geopferten. Allerdings war in Israel noch wie im Heidentum die Fortpflanzung in der Geschichte wertbetont, aber doch nur so, dass sie durch die entscheidenden Momente der alttestamentlichen Heilsgeschichte und Offenbarungsgeschichte wieder in Frage gestellt wurde, so durch die Wundergeburt Isaaks, durch die Bevorzugung Jakobs vor dem tatsächlich erstgeborenen Esau usw.

Den Übergang von der Theokratie zur Königsherrschaft in der Geschichte Israels bildet die Zeit der Richter, wie sie im AT von dem nach ihnen benannten Buch geschildert wird. Man hat wiederholt versucht (zuletzt vor allem Martin Buber) das Rätsel dieses Buches zu klären, das Rätsel nämlich, das darin besteht, dass die Kapitel 1 - 12 eine dem Königtum feindliche theokratische, die Kapitel 17 - 21 dagegen eine ihm freundliche Tendenz zeigen, die etwa in dem sich ständig wiederholenden Satz "Zu der Zeit war kein König in Israel" (zu ergänzen: weshalb noch keine Ordnung herrschte und alles drunter und drüber ging) ihren prägnanten Ausdruck findet. Die Lösung dieses Rätsels scheint mir aber gar nicht so schwierig zu sein. Solange das Volk seinem Gott, der es erwählt und aus Ägypten geführt hatte, relativ treu blieb, musste ihm oder musste doch wenigstens seinen berufenen Führern wie Moses, Josua und Gideon die Einsetzung eines menschlichen Königs als Treulosigkeit und Abfall von Gott erscheinen. Sobald aber die Treue mehr und mehr nachließ und Israel damit seinen Halt an Gott verlor, konnte es nur noch von der harten Faust eines tyrannischen Herrschers zur Raison gebracht werden. Die Theokratie im Zeichen der Treulosigkeit Gott gegenüber wäre nur noch eine anachronistische Lüge gewesen, eine böse Selbsttäuschung, ein vorgegaukeltes Paradies. Eben darum antwortet Gott selbst dem Samuel, der sich gegen die Einsetzung eines Königs sträubt und dementsprechend vor Gott Klage führt: "Gehorche der Stimme des Volkes in allem, was sie zu dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, dass ich nicht soll König über sie sein." (Sam. 8, 7). Das Volk, das Gott als seinen König verworfen hat, ist reif für den irdischen, den zeitlichen, den innergeschichtlichen König und für seine Despotie, es ist "mündig" geworden in dem zweideutigen Sinn, in dem Dietrich Bonhoeffer dieses gewöhnlich so sehr missverstandene Wort gebraucht. Die hier gemeinte Müdigkeit ist ja nichts anderes als die falsche Freiheit Adams, der sich von seinem Schöpfer lossagte, weil er selbst wie Gott sein wollte, oder auch die Mündigkeit des dem Vater entlaufenen Sohnes.

Während also der erste Teil des Richterbuches sich sozusagen an den letzten Faden klammert, mit dem Israel noch an der Theokratie hängt, ist im zweiten auch dieser Faden zerrissen, und sind nun alle Illusionen dahin. Soll Israel nicht jede Stütze verlieren und ganz und gar im Chaos versinken, so bleibt als Notausweg nur die weltliche Königsherrschaft mit ihren sämtlichen harten Konsequenzen: "Das wird des Königs Recht sein, der über euch herrschen wird: Eure Söhne wird er nehmen zu seinen Wagen und zu Reitern, und dass sie vor seinem Wagen herlaufen." (I. Sam. 8, 11). "Wenn ihr dann schreien werdet zu der Zeit über euren König, den ihr euch erwählt habt, so wird euch der Herr zu derselben Zeit nicht erhören." (8, 18). Wo die das Leben mit Milde regierende Liebe fehlt, muss das Gesetz an ihre Stelle treten. Wo die Tafeln zerbrochen sind, die Gott mit dem eigenen Finger beschrieben hatte, muss der Mensch Moses neue Tafeln mit seinem Griffel beschreiben. (Ex. 34, 27).

Genau am rechten Ort zwischen den beiden Teilen des Richterbuches, dem das Königtum verneinenden und dem es bejahenden, findet sich die so sehr merkwürdige Simson-Erzählung. Simson selbst wird hier zum Bild und Gleichnis Israels. Er ist einerseits der "Geweihte Gottes" (16, 17) vom Mutterleib an und trägt als Zeichen dafür sein langes ungeschorenes Haar. Er ist aber andererseits auch ein Hurer, und Hurerei bedeutet in der Sprache der Bibel so viel wir Götzendienst. Er hurt auch mit Dalila und verrät ihr schließlich das Geheimnis seines Gottgeweihtentums, mit anderen Worten: Er verrät Gott an die Götzen. Im Schoß der Dalila, also mitten im Abfall von Gott schläft er ein und wird seiner Haare und Kraft beraubt. Nun gewinnt das Heidentum in Gestalt der Philister Macht über ihn. Er wird wie die anderen Völker, genau wie Israel, indem es sich einen König setzt. Zwar gewinnt Simson später mit dem neu wachsenden Haar seine alte Kraft zurück, aber als Kraft doch nur zum Tod und nicht zum Leben. Auch werden seine einmal geblendeten Augen nicht wieder sehen, er bleibt weiterhin ein Blinder. Mit den heidnischen Philistern, die er tötet, also mit den anderen Menschen (mit den anderen Völkern), denen er ein für allemal gleich geworden ist, wie Israel mit seinem König, muss er selbst auch untergehen. Er wird Sieger über das Heidentum nur als ein mit ihm Besiegter. Der Tempel des Dagon, den er zerstört, begräbt auch ihn unter seinen Trümmern. Den Heidentempel vernichten kann auch ein Blinder, den unzerstörbaren Tempel des ewigen Gottes aufrichten aber könnte nur ein Sehender. Der geweihte Simson ist das noch theokratische Israel, der seiner Haare und seines Augelichtes beraubte das zum irdischen Königreich abgefallene, das in seiner "Mündigkeit" erblindete mit der Decke des Moses vor dem Angesicht und dem Herzen.

 

Das nachexilische Judentum

 

Nur drei Königen war es vergönnt, das ganze Israel zu regieren: Saul, David und Salomo. Der Sohn Salomos, Rehabeam, konnte das Reich nicht mehr zusammenhalten. Es zerfiel, nachdem die Mehrzahl der Stämme sich gegen ihn empört hatte, gegen ihn, der das Volk nicht wie sein Vater mit Peitschen, sondern mit Skorpionen züchtigen wollte. Es zerfiel in zwei Reiche, das Südreich Juda unter Rehabeam mit Jerusalem als Hauptstadt und das Nordreich "Israel" unter Jerobeam mit Sichem. Um sein Volk davon abzuhalten nach Jerusalem zu ziehen, um dort im Tempel Jahwe zu dienen, richtete Jerobeam zwei goldene Stierkälber auf, das ein zu Beth-El, das andere gegen Dan, und das mit den gleichen Worten, die einst Aaron vor dem Götzen in der Wüste Sinai gesprochen hatte: "Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben." (1. Kön. 12, 28). Damit soll angedeutet sein, dass die Stämme des Nordreichs die Erben jener ersten Götzendiener waren, während sich der "Rest Israels" um das Heiligtum von Jerusalem scharte. Aber auch dieser Rest war keineswegs frei von Sünde; auch er hatte seinen Teil an der Vergangenheit und trug ihr Erbe an sich. Nur in einem sehr relativen Sinn hatte Juda etwas voraus vor Israel, so etwa wie Isaak vor Ismael, Jakob vor Esau oder Ephraim vor Manasse. In der abgefallenen Wirklichkeit gibt es nicht den Gegensatz von Weiß und Schwarz, sondern - bildlich gesprochen - nur den von Hellgrau und Dunkelgrau. Das "dunkelgraue" Volk des Nordreiches wurde, nachdem seine Söhne mehr als zweihundert Jahre hindurch den Götzen Jerobeams gedient hatten, in die assyrische Gefangenschaft verschleppt, aus der sie niemals wieder heimkehrte, das "hellgraue" Juda durfte aber nach dem siebzigjährigen babylonischen Exil den Boden der alten Heimat wieder betreten und dort leben, wenn auch nicht in völliger Freiheit, sondern unter der Oberherrschaft erst der Perser, dann der Mazedonier und zuletzt der Römer. Diese partielle Knechtschaft entsprach seiner partiellen Teilhaberschaft an der Sünde des ganzen Israel, der Schwärze in seinem Grau.

Mit dem assyrischen und babylonischen Exil findet die eigentliche Geschichte Israels ihr Ende. Die Juden, die bis heute übrig blieben, sind ein geschichtsloses Volk und deuten, freilich ohne das zu wissen und zu wollen, durch ihre Geschichtslosigkeit die eschatologische Übergeschichtlichkeit des wahren erwählten Israel an. Es ist darum grundsätzlich falsch, vom Judentum so zu reden, als ob es noch immer das alte Israel wäre. Dieses Israel hört auf zu existieren bereits mit der Reichsteilung zwischen Rehabeam und Jerobeam. Das Reich Juda war schon damals nicht einfach die Fortsetzung Israels, und das spätere jüdische Volk ist das erst recht nicht. Die Wiederaufrichtung des Reiches Israel, nach der die Jünger den Auferstandenen unmittelbar vor seiner Himmelfahrt fragen, (Apg. 1, 6), ist nur möglich, wenn das nach der assyrischen Gefangenschaft unter die Völker zerstreute Israel und mit ihm die Völker selbst wiedervereinigt werden mit Juda. "Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, solange bis die Fülle der Helden eingegangen sei und also das ganze Israel selig werde." (Röm. 11, 25f).

"Jahwe ist der Gott, der sich selbst dem Volk Israel für die Zukunft verheißt, um den dieses Volk in seiner Geschichte kämpft und von dem es darum auch den Namen des Gotteskämpfers erhalten hat. Israel hat die Verheißung, dass aus ihm der Messias, das heißt der Mensch gewordene Gott geboren werden soll, und auf den Messias hin empfängt dieses Volk seine geschichtliche Bestimmung, die aber . . . gerade als Aufhebung der Geschichte und damit auch des Volkstums (der bloß nationalen politischen Existenz) gemeint ist. Israel darf, indem es seinen Menschen-Gott (als Gott-Menschen) gebiert, aufhören ein Volk zu sein und so auch den übrigen Völkern, den Heiden, die Erlösung von ihrem Volkstum und von ihrer Abgötterei bringen. "Das Heil kommt von den Juden" (Joh. 4, 22). "Die Verheißung des AT bezieht sich demnach wohl auf ein in der Zeit stattfindendes Ereignis, nämlich auf die Geburt (und das Erscheinen) des Messias, aber diese Geburt selbst findet wieder nur in dem, weltlich verstanden, negativen Ereignis des Kreuzestodes ihren endgültigen Sinn, und der Kreuztod Christi ist das große Nein Gottes zu allem, was in der Zeit entsteht und in geschichtlichem Werden seine Vollendung erreicht. So schillert die religiöse Erwartung des vorchristlichen Israel zwischen eschatologischer Weltüberwindung und Erwartung eines Geschehens, das eben doch in dieser zu überwindenden Welt stattfinden soll." "Von dem Volk, als dessen Volksgott Gott sich offenbart, von diesem auserwählten Volk also, wird als Gegenleistung (für die ihm erwiesene Gnade) gefordert, dass es den Vorgang der göttlichen Selbstenthüllung und Selbstverhüllung antwortend in umgekehrter Folge nachvollzieht. In umgekehrter Folge, das bedeutet, dass es sich dort als Volk verhält, also gleichsam enthüllt, wo Gott sich verhüllt und dort verhüllt, also sein Volkstum zum Opfer bringt, wo Gott sich als der, der er wirklich ist, enthüllt. Gott verhüllt sich, indem er die Gestalt des Abgottes annimmt, indem er in den geschichtlichen Raum des Volkes eingeht, und er enthüllt sich, indem er, zu sich selbst zurückkehrend, diesen Raum verlässt. Dem entspricht auf der Seite des Volkes ein geschichtliches Handeln und ein scharfes Sich-Absondern gegen die anderen Völker und ihre Götter als Antwort auf die Abgottwerdung Gottes, und der Verzicht auf das Zeitlich-Geschichtliche, d.h. auf politische Macht, auf Kultur (wie sie Heiden haben) und auf national gebundene Religion als Antwort auf die Aufhebung der abgöttischen Gestalt."

Die israelitische Diaspora beginnt mit der Verschleppung der zehn Stämme des Nordreiches durch die Assyrer, ja eigentlich schon mit der Reichsteilung; denn jede Teilung nimmt weitere Teilungen vorweg oder zieht sie nach sich. Ephraim ist zerstreut unter die Heiden, indem es sich kraft der "Sünde Jerobeams" zu einem heidnischen Volk macht und den Heiden "assimiliert". Juda folgt Ephraim nach, wenn es sich auch nicht ganz verliert, aber die babylonische Gefangenschaft, die Botmäßigkeit unter Persern, Griechen und Römern sind Vorstufen auf dem Weg zur endgültigen Zerstreuung nach der Zerstörung Jerusalems und dem Barkochbaaufstand. Die Zerstreuung, das Sich-Verlieren unter den Völkern ist die negative Seite, die Todesseite der Vereinigung aller Völker mit Israel. Das und nur das geschieht auf der Ebene der Weltgeschichte, sobald der eschatologische Vorgang der Einigung des Gottesvolkes zum ganzen Israel den geistlichen Augen entschwindet. Israel ist dazu berufen, so oder so Menschheitsvolk zu werden, entweder alle in sich aufzunehmen oder in allen aufzugehen. Es ist derselbe Vorgang wie er sich einmal den gesalbten und einmal den ungesalbten Augen darstellt. Israel wollte nicht Gott als seinen einzigen Herrn anerkennen, sondern einen König haben wie die übrigen Völker. Damit war sein geschichtlicher Untergang besiegelt. Wir sagten schon, dass jedes empirische Volk an seiner Stelle genau das Gleiche getan hätte und somit niemand auf Erden zu seinem Richter berufen ist. Der Weg Israels war von Anfang an unausweichlich vorgezeichnet. Man darf darum auch nicht sagen, dass die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn sich Israel anders verhalten hätte. Die Geschichte konnte gar nicht anders verlaufen, weil Israel sich als dieses menschliche Volk nicht anders verhalten konnte, aber eben an seinem Unheil sollte ja für den Glauben das Heil sichtbar werden. "Aus ihrem (der Israeliten und Juden) Fall ist den Heiden das Heil widerfahren; "denn ihr Fall ist der Welt Reichtum, und ihr Schade der Heiden Reichtum." (Röm 11, 11f).

Der Berliner Historiker Karl Kupisch hat seinem Büchlein über das Schicksal der Juden zuerst den Titel gegeben "Das Volk ohne Geschichte" und dann später den anderen "Das Volk der Geschichte". Beide Titel haben ihren guten Sinn, und es ist schwer zu sagen, welcher von ihnen der angemessenere wäre. Die Juden sind das Volk ohne Geschichte; denn ihre Geschichte endet mit dem Exil. Seither leben sie ihr ständig der Angst ausgeliefertes Dasein als geschichtslose Menschengruppe verstreut unter den geschichtlichen Völkern des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit. Man möchte beinahe sagen, sie können weder leben noch sterben. Aber gerade so sind sie auch das Volk der Geschichte; denn an ihnen und an ihnen ganz allein lässt sich der wahre übergeschichtliche Sinn aller Geschichte ablesen, ihr eschatologischer Sinn, den sie selber als Juden freilich nicht wahr haben wollen. Ihr Vorhandensein ist ein Wunder. Wären sie nur ein Volk wie irgend eines sonst, dann müssten sie längst zugrunde gegangen sein. Aber sie sind kein Volk wie irgend eines sonst. Sie werden vielmehr in ihrer Geschichtslosigkeit von einer Macht jenseits der Geschichte gehalten und erhalten. Sie sind der Widerschein der Transzendenz in der Immanenz, der Widerschein des Ewigen mitten in der Vergänglichkeit. Die anderen Völker mögen oft groß und bewunderungswürdig sein, Träger glänzender Kulturen wie die Griechen, die Römer, die Franzosen, die Engländer usw., aber ihre Größe ist vergänglicher "Glanz dieser Welt". An den Juden glänzt gar nichts, nur hat dafür ihre Glanzlosigkeit das Geheimnis der Unvergänglichkeit, von dem her auch die vergängliche Geschichte lebt. Sie eilen und hasten aus der Vergangenheit über die Gegenwart hinein in die Zukunft ohne Ziel, ohne Ziel wenigstens dort, wo sie es suchen, nämlich im zeitlichen Morgen und Übermorgen. Jeder folgende Tag ist ebenso leer und erfüllungslos wie der frühere. Ihr Weg gleicht einer geraden Linie quer hindurch durch das Auf und Ab, das Entstehen und Sterben der anderen Völker mit ihren aufblühenden und verwelkenden Kulturen. Sie sind das statische Element inmitten dieses unaufhörlichen Wandels, dieser "ewigen Wiederkehr des Gleichen", geradeso statisch wie die schlechte unendliche Zeit im Verhältnis zur ewigen Gegenwart des Gottesreiches. So sind sie immer da, während die anderen schon nicht mehr oder noch nicht da sind. Dieses ihr Immer-Dasein ist graue Trostlosigkeit. Selbst wenn einmal viele von ihnen oder die meisten vernichtet, ausgerottet und ermordet werden, bleiben doch immer noch genug übrig, die das unselige Rennen fortsetzen. Insofern sind sie gewiss das Volk der Geschichte; denn an jedem geschichtlichen Ort lassen auch sie sich finden. Nur wer die Zeichen zu deuten weiß, wird erfahren, dass ihr leeres Immer-Dasein ein Versprechen in sich schließt, die Verheißung der erfüllten Geschichte, das Ziel über allen Zielen.

Zu diesem Thema äußert sich auch Karl Barth einmal in seiner "Kirchlichen Dogmatik": Israel "muss nun dem Zeugnis der Kirche gegenüber, die der Sünde folgende menschliche Not: Des Menschen Schranke und Leid, sein Vergehen und den Tod, dem er verfallen ist, in der Abstraktion exemplarisch darstellen und verkörpern, in der sie durch Gottes Erbarmen negiert und vom Menschen weggenommen wird. Es muss nun das Dasein einer halb ehrwürdigen, halb grausigen Reliquie, einer wunderlich konservierten Antiquität der menschlichen Schrulle personifizieren. Es muss nun das historische, das gänzlich zukunftslose Leben leben den Völkern: ohne doch wie andere Völker seine Zeit zu haben und dann wieder abtreten und in anderen aufgehen zu dürfen. So straft es sich selbst."

 

VOR DER ENTSCHEIDUNG

 

 

Die Messiashoffnung der Juden

 

Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht wahrgenommen." (Joh. 1, 5) "Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ich nicht auf." (1, 11) Die Finsternis, das ist die Welt mit ihrem Repräsentanten vor Gott, dem Menschen; sein Eigentum, das sind die Menschen mit ihrem Repräsentanten vor Gott: Israel. Die ganze finstere Welt also hat das Licht nicht wahrgenommen, auch die Menschen nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, und die ganze Menschheit hat Ihn nicht aufgenommen, auch die Juden nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Als das Licht in die Finsternis schien und Er in sein Eigentum kam, waren für die finstere Welt die Menschen und für die Menschen die Juden zur Entscheidung gerufen; denn Israel war auf Sein Erscheinen hin erwählt worden, sozusagen als der "Wächter sehr hoch auf der Zinne". Nur ihm allein war die vorbereitende Offenbarung gegeben worden. Sein Versagen ist aber nicht nur sein, sondern der ganzen Menschheit und mit ihr der ganzen gefallenen Schöpfung Versagen.

Die Offenbarung an Israel war, wie schon gezeigt wurde, verhüllt und zweideutig, sie konnte nicht anders als zweideutig sein, weil die nackte Eindeutigkeit dem Menschen die Freiheit der Entscheidung genommen und außerdem seiner eigenen durch die Sünde bedingten Zweideutigkeit. Seinem Von-Gott-her- und Von-Gott-weg-Sein nicht Rechnung getragen hätte. Die Verhülltheit der alttestamentlichen Offenbarung bestand vor allem darin, dass hier, genauer gesagt für die Zeit von der Berufung Abrahams (Gen. 12) bis zum Erscheinen Jesu Christi, des verheißenen Messias, die Ursünde gleichsam ausgeklammert wurde. Das Gottesvolk erhält seinen Platz im Weltraum und in der Weltzeit zugewiesen, so als ob hier alles in bester Ordnung sein könnte, wenn nur der Mensch sich an diese gottgewollte Ordnung hält und die ihm expressis verbis vorgeschriebenen Gebote befolgt. Dabei handelt es sich aber in Wahrheit um eine bloße Vorläufigkeit, die der vorläufigen Volksgottesgestalt Gottes und der ebenso vorläufigen nationalen Gestalt des Gottesvolkes entspricht. Wird durch die Gestalt hindurch, durch die Maske hindurch die verhüllte Wahrheit im Glauben erfasst, so mit ihr selbstverständlich auch die Gefallenheit und totale Erlösungsbedürftigkeit der ganzen Welt, deren Schöpfer der Gott Israels seiner Wahrheit nach ist. Damit ist aber auch schon gesagt, dass der verheißene Messias nicht kommt, um innerhalb der Welt mit ihren Möglichkeiten die Gottesordnung wiederherzustellen, sondern um die Welt, so wie sie nun einmal beschaffen ist, zu überwinden oder umzuschmelzen in eine völlig neue Welt, einen "neuen Himmel und eine neue Erde". In der besonderen Form der Messiaserwartung spiegelt sich demnach das Heilsverständnis, das je nach dem historische oder eschatologische Heilsverständnis.

Die Juden, die sich dem Messias Jesus widersetzten, die ihn nicht annahmen, als er in sein Eigentum kann und ihn verleugneten, ja darüber hinaus den Heiden zur Kreuzigung auslieferten und so den Gott Israels verrieten, diese Juden sind eben die die auch weiterhin nach dem entscheidenden Ereignis der Heilsgeschichte Juden geblieben sind bis auf den heutigen Tag. Die Juden von damals haben den eschatologischen Charakter der Offenbarung verkannt, und ihre Nachkommen sind ihnen darin gefolgt, ja sie haben die Väter noch übertrumpft. "Zurückhaltung und geradezu Misstrauen bestand gegenüber jeder eschatologischen Exegese, namentlich der messianisch zu deutenden Stellen des Alten Testaments." (K. Kupisch "Das Volk der Geschichte"). Diese antieschatologische Haltung ist natürlich gleichzeitig eine antichristliche, ja eine antiisraelitische, sofern man Israel im Licht seiner Berufung und Erwählung erkennt. Es war der allmähliche Verlust des eschatologischen Moments auch in der späteren christlichen Theologie, der schließlich die sogenannte Judenemanzipation in den letzten Jahrhunderten begünstigte und gerade so noch später zu einem nicht mehr religiösen, sondern rassisch-biologisch-politisch verstandenen Antisemitismus führte.

Es wäre ein großes Glück, wenn die Mehrheit der heutigen Christen, vor allem auch der christlichen Theologen aller Konfessionen nur halb so einsichtsvoll wäre wie der Jude Martin Buber, an dem wir freilich trotzdem Kritik üben müssen, sofern er sein Judentum herausstellt, eine Kritik, die wir uns schenken können, wenn der Kritisierte weniger bedeutend wäre als er tatsächlich ist. Was Buber theologisch zu sagen, lässt fast immer aufhorchen und trifft sehr oft zu, bis auf das eine, das freichlich auch alles Zutreffende wieder umfärbt und in Frage stellt, dass er die Tatsache der Ursünde nicht genügend ernst nimmt und so in den Schranken der alttestamentlichen Gleichnisrede gefangen bleibt. Buber erzählt einmal ("Reden über das Judentum"); "Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: ‚Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.’ Damals kam ich zu einem alten Mann und fragte ihn: ‚Worauf wartet er?’ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: ‚Auf dich.’ " Ich möchte darauf antworten: Vor den Toren Jerusalems hängt ein Sterbender am Kreuz. Es ist der Messias. Auch er wartet: auf dich, Martin Buber.

In einem Religionsgespräch mit dem evangelischen Theologen und Professor für Neues Testament Karl Ludwig Schmidt bemerkte Buber: "Eine Zäsur nehmen wir (die Juden) in der Geschichte nicht wahr. Wir kennen in ihr keine Mitte, sondern nur ein Ziel, das Ziel des Weges Gottes, der nicht innehält auf seinem Wege." Unter der "Mitte" der Geschichte oder der "Zäsur" ist hier natürlich das Erscheinen Christi zu verstehen. Die Juden, wie Buber, Schöps u. a. halten uns immer entgegen, dass die Welt noch im argen liegt und also nicht erlöst sei. Als ob wir das nicht auch wüssten. Die in Christus geschehene Erlösung aber ist für diesen zeitlich-geschichtlichen Äon eine Erlösung im Verborgenen, nur dem Glauben und nicht dem Schauen offenbar. Dieses Zweite kann sie erst am Jüngsten Tag werden, wenn die Ewigkeit den Schleier der Zeit endgültig durchbricht, was aber nicht ausschließt, dass sie, die Ewigkeit, schon jetzt hinter diesem Schleier west als die wahre Wirklichkeit. Darum eben wird ja vom Reich Gottes gesagt, dass es kommt und doch schon da ist, welche doppelte Aussage seinen eschatologischen Charakter anzeigt. Eschatologisch heißt nicht zeitliches Ende oder Ziel, sondern Aufhebung oder noch bessere Erfüllung der Zeit im Überzeitlichen. Dass sich die Erlösung in der Mitte einer auch weiterhin unerlösten Weltgeschichte vollzieht, macht ihre Transzendenz, ihr gegenwärtiges Jenseits von Gestern, Heute und Morgen deutlich, wogegen die jüdische Enderwartung in der Immanenz des zeitlichen Flusses bleibt, Martin Buber, der sonst über eine erstaunliche intuitive Begabung verfügt, schaltet diese immer ab und argumentiert wir irgend ein eingefleischter Rationalist, sobald es darum geht, neutestamentliche, etwa paulinische Aussagen zu verstehen.

"Das Judentum", erklärt ein anderer jüdisch-theologischer Schriftsteller unserer Tage, "hat, in allen seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, der sie als einen Vorgang auffasst, welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinungen im Sichtbaren nicht gedacht werden kann. Demgegenüber steht im Christentum eine Auffassung, welche die Erlösung als einen Vorgang im geistigen Bereich und im Unsichtbaren begreift, der sich in der Seele, in der Welt jedes einzelnen, abspielt, und der eine geheime Verwandlung bewirkt, der nichts Äußeres in der Welt entsprechen muss . . .

Was dem Christen als tiefere Auffassung eines Äußerlichen erschien, das erschien dem Juden als dessen Liquidation und als eine Flucht, die sich der Bewährung des messianischen Anspruchs innerhalb seiner realsten Kategorien unter Bemühung einer nicht existierenden reinen Innerlichkeit zu entziehen suchte." (Gerschom Scholem, Judaica). Hier haben wir wieder wie so oft in der jüdischen Kritik am Christentum das radikale Missverständnis der Glaubenswelt des Christen als einer rein seelischen Welt, einer Welt des Geistigen (statt des Geistlichen!) und der reinen "Innerlichkeit" vor uns, ein Missverständnis, das freilich von vielen christlichen, vor allem protestantischen Theologen von Schleiermachers "Provinz im Gemüt" bis hin zu Rudolf Bultmans "Eschatologie" mitverschuldet ist. Unter der Glaubenswirklichkeit, zu der auch die in Christus vollzogene Erlösung gehört, hat man sich aber gerade keine psychologisch verdünnte, subjektivistisch-idealistische, sondern eine sehr massive und sehr konkrete Wirklichkeit vorzustellen, die sich den Sinnen nur darum nicht darbietet, weil unsere Sinne viel zu wenig massiv, viel zu wenig konkret, viel zu verdünnt und unwirklich sind, um sie wahrnehmen zu können. Die christliche Hoffnung auf die Erlösung und der christliche Glaube an die bereits vollzogene Versöhnung, also die christliche Eschatologie hat ganz und gar nichts mit dem zu tun, woran man gewöhnlich denkt, wenn man von Geist, Seele, Innerlichkeit usw. redet.

Es stimmt allerdings, dass sich das abgefallene, sich dem Zeitgeist anpassende Christentum immer mehr in einen subjektivistischen Immanentismus verrannt hat, so wie das abgefallene Judentum in einen historisch-zeitlichen, ja materialistischen Messianismus. Gerschom Scholem hält dieses entartete (in erster Linie natürlich neoprotestantische) Christentum mit seiner höchst fragwürdigen Ersatzeschatologie für das eigentliche, während es gerade das ja eben nicht ist. Das eigentliche eschatologische Christentum kommt ausschließlich aus dem Neuen Testament. Das entartete historisch-chiliattische Judentum hingegen hat seine Wurzel in der Verwerfung des Neuen Testaments und der Messianität Jesu. Mit der "Chemisch reinen Innerlichkeit" (Scholem) verbindet das neutestamentliche Christentum der Urgemeinde wirklich gar nichts, ja es schließt sie völlig aus.

Derselbe Gerschom Scholem, der von der jüdischen Erlösungsvorstellung behauptet, dass sie einen Vorgang meint, der sich auf dem Schauplatz der Geschichte vollzieht, sagt übrigens selbst wenige Seiten später: "Es ist ja gerade die Übergangslosigkeit zwischen der Historie und der Erlösung, die bei den Propheten und Apokalyptikern stets betont wird. Die Bibel und die Apokalyptiker kennen den Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin (von mir hervorgehoben). Die Erlösung ist kein Ergebnis innerweltlicher Entwicklungen, wie etwa in den modernen abendländischen Umdeutungen des Messianismus seit der Aufklärung . . . Sie ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wandelnd, weil von einem Licht betroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt . . . wenn es etwas gibt, was die Historie im Sinne dieser Seher verdient, so kann es nur ihr Untergang sein. Von jeher liegt den Apokalyptikern die pessimistische Weltbetrachtung am Herzen. Ihr Optimismus, ihre Hoffnung richtet sich nicht auf das, was die Geschichte gebären wird, sondern auf das, was in ihrem Untergang hochkommt, nun endlich unverstellt frei wird." Man fragt sich, was soll von hier aus noch Polemik gegen das Christentum; denn genau das ist ja auch die eigentliche christliche Vorstellung? Wo also liegt der Gegensatz? Ist vielleicht eigentliches Christentum und eigentliches Judentum doch ein und dasselbe? Wollen Scholem, Buber usw. die Eschatologie nur dann nicht wahr haben, wenn sie aus christlichem Munde kommt?

Jedenfalls geht das, was Scholem hier ausführt, mit dem früher Gesagten in keiner Weise zusammen und auch nicht mit dem, was sonst von jüdischen Theologen - Buber eingeschlossen - gelehrt wird. Typisch für das nachchristliche Judentum ist vielmehr durchaus die innerzeitliche Heilserwartung, ebenso wie für das "nachchristliche Christentum" der säkularisierte Fortschrittsglaube. Die Verdünnung der christlichen Eschatologie ins Subjektivistische, in die sogenannte "Innerlichkeit" tritt eben dort ein, wo die empirische Geschichte als einzige Wirklichkeit hingenommen wird und also das "christliche" Denken mit dem jüdischen koindiziert.

Die uneschatologische, antieschatologische und starr auf das Weltliche gerichtete jüdische Mentalität müsste in ihrer äußersten Zuspitzung unausweichlich zu der extrem paradoxen Lehre kommen, dass der Messias die Sünde überwindet nicht indem er ihr widersteht, von ihr besiegt und getötet wird, um am Ende in den eschatologischen Raum auferweckt zu werden, sondern indem er selber die Sünde nur tut, das Gesetz bricht, den ganzen Fluch, das ganze Ärgernis und die ganze Schande des Sündigseins auf sich nimmt, um in solcher Weise Israel, die Menschheit, die Welt in ihrer empirischen Gestalt als sündige zu erlösen. Aus dieser Konsequenz heraus ist die Lehre der Sabbatiraner, vor allem die ihres geistigen Führers Cordoso zu verstehen, nach welcher der "Messias" Sabbathai Zewi, indem er zu Islam abfiel, seine Aufgabe nicht verleugnete, sondern erfüllte. Auf der gleichen Linie bewegt sich die Meinung eines modernen, durch alle Schrecken der nationalsozialistischen Judenverfolgung hindurchgegangenen jüdischen Schriftstellers, der das Leiden Israels nicht auf dessen Sünde, sondern auf den irrationalen göttlichen Willen zurückführt und deshalb das eigentliche Werk des Judentums darin zu erkennen glaubt, Gott dessen Ungerechtigkeit zu vergeben. Hier wie dort wird zweifellos der prälapsarische Zustand des "Jenseits von Gut und Böse" gesucht. Wird dieser Zustand nun als innerweltliche und nicht als bloß eschatologische Möglichkeit gedeutet, so muss er notwendig durch eine Art von Identifikation von Gott und Teufel, nämlich eben von Gut und Böse - ähnlich wie bei Nietzsche - zustande kommen, also durch einen Gewaltakt. Die Erfüllung des Gesetzes stellt sich dann dar als Bruch des Gesetzes. Es leuchtet ein, dass der nationalsozialistische Immoralismus, der Glaube, durch Grausamkeit und Ungerechtigkeit zum guten Ziel gelangen zu können, auf den gleichen Voraussetzungen ruht. Auch hier handelt es sich um einen innerweltlichen und antichristlichen Messianismus. Die starre Gesetzesgläubigkeit, die dem Menschen die Selbsterlösung zutraut, und die Messias-Erwartung schließen einander aus. Entweder kann ich mich selbst erlösen und brauche darum keinen Erlöser, keinen Heiland, keinen Messias, oder wird alle Hoffnung in die Erlösertat des Messias gesetzt, dann erweist sich von da aus das Gesetz als unwirksam und eitel. Nur wenn das Gesetz als Ordnung der unerlösten Welt verstanden wird und demgemäss die Erlösung als eschatologisches Ereignis, lassen sich beide miteinander vereinbaren, was nur auf dem Boden des christlichen Glaubens und nicht auf dem des nachchristlichen Judentums möglich erscheint.

 

Die Verwerfung Christi

 

"In Israel waren die höchsten Möglichkeiten, die je einem Volk beschieden waren: die Möglichkeit Christi. Die andere Möglichkeit ist der Jude." So Otto Weininger, der selbst ursprünglich Jude war und dann allerdings leider "Antisemit" wurde. ("Geschlecht und Charakter") "Das jüdische Wesen hat metaphysisch gar keine andere Bestimmung, als dem Religionsstifter (gemeint ist natürlich Jesus Christus) als der Sockel zu dienen: nie als einzelne Menschen, sondern stets nur in einer Menge. Nur zu mehreren sind sie "fromm", sie brauchen den "Mitbeter": weil die Hoffnung der Juden identisch ist mit der permanenten Möglichkeit, aus ihrer Gattung den großen Überwinder (der Gattung), den Religionsstifter hervorgehen zu sehen. Das ist die unbewusste Bedeutung aller messianischen Hoffnung in der jüdischen Überlieferung: der Christ ist der Sinn der Juden." Diese unanzweifelbare Wahrheit lässt sich freilich auch liebevoller ausdrücken; denn es ist immerhin etwas, der Sockel Christi zu sein, etwas, dessen sich kein anderes Volk rühmen kann. Der Christ ist ja nicht die Aufhebung des Juden im Sinn seiner Vernichtung, sondern im Sinn seiner Bewährung und Vollendung.

Für uns entscheidend ist hier aber vor allem die zweifellos richtige Feststellung, dass die "Religion" wie die Frömmigkeit Israels unabdingbar an die Volksgemeinschaft, also an eine Art Kollektiv gebunden bleibt. Nach alttestamentlicher Vorstellung fällt die Zugehörigkeit zur Gemeinde Gottes mit der vollen Zugehörigkeit zum Volk Israel zusammen. Deshalb kann etwa ein Eunuch, dem die leibliche Nachkommenschaft von Natur aus versagt ist, der also nicht in der Kette der Generationen steht, kein Gemeindeglied sein. So Deut. 23,2: "Es soll kein Zerstoßener noch Verschnittener in die Gemeinde des Herrn kommen." Aber bereits der Prophet Jesaja weissagt (56, 3), im Blick auf das messianische Reich: "Und der Fremde, der zum Herrn sich getan hat, soll nicht sagen: Der Herr wird mich scheiden von seinem Volk. Und der Verschnittene soll nicht sagen: Siehe, ich bin ein dürrer Baum." Diese Worte erfüllen sich paradigmatisch für die Gemeinde Christ an dem Eunuchen der Königin Kandake. Bevor ihm der Diakon Philippus begegnet, liest dieser entmannte Mann die Stelle Jes. 53,8, wo es von dem auf Jesu gedeuteten leidenden Gottesknecht heißt: "Wer wird aber von seinem Geschlecht (Nachkommenschaft) berichten?" Damit wird in Konsequenz dieser Deutung Jesus der biologisch-nationalen Gemeinde entnommen und zum Herrn und Haupt der rein geistlichen Gemeinde, des Israel kata pneuma gemacht. Für den Eunuchen besteht da kein Hindernis, in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Die Taufe wird an ihm vollzogen, die Schranken des alttestamentlichen Gesetzes sind gefallen.

Bileam, dem vom König der Moabiter aufgetragen wurde, Israel zu fluchen, sagt nach Num. 23,8 f: "Wie soll ich fluchen, dem Gott nicht flucht? Wie soll ich schelten, den der Herr nicht schilt? Denn von der Höhe des Felsen sehe ich ihn wohl, und von den Hügeln schaue ich ihn. Siehe, das Volk wird besonders wohnen und nicht unter die Heiden (Völker) gerechnet werden." Das heißt also, Israel ist unter den Völkern kein Volk, es ist als Volk ein Nicht-Volk. Nur in seinem Selbstmissverständnis versteht es sich als Volk, statt in seiner Aufhebung seine Bestimmung zu erkennen, und in solchem Selbstmissverständnis wird es dann allerdings zum Volk kat’ exochén, zum Zerrbild eines rein irdischen Volkes. Es käme hier ja nicht nur darauf an, dass sich jeder Einzelne seiner individuellen Einzelheit nach, sondern darauf, dass sich das Volk seiner Volkheit nach der wahren Gemeinde Gottes darbringt. Aber das nachchristliche Judentum betont im Gegensatz dazu gerade seine Volkheit. Selbst noch dann, wenn sich die Juden gelegentlich in gewissen rabbinischen Schriften nicht irgendwelcher Vorzüge, sondern ihrer Selbsterniedrigung vor Gott rühmen, bleibt auch das immer noch eine Form der Selbsterhöhung und damit Umdeutung der Erwählung ins Nationale. Erst in der Aufgabe der Erwählung an die Völker, für die es erwählt ist (Gen. 12,3) kann Israel seine Bestimmung erfüllen. In solchem Sinn rühmt sich Paulus nicht seines eigenen Kreuzes, sondern allein des Kreuzes Jesu Christ. Die demütige ruhmlose Hinnahme der Erniedrigung durch Gott, wie Jesus sie erfährt, ist die einzige wahre Form der Erhöhung: Erhöhung am Kreuz!

Auch die Verwerfung Christi durch die Juden geschieht als Tat des Volkes und nicht der Einzelnen, weshalb sie auch als Volk die Verantwortung dafür tragen müssen. Sie verwerfen Christus ja doch, indem sie sich zu ihrem Volkstum bekennen, sich für ihr Volkstum entscheiden. Es bleibt darum durchaus gleichgültig, wie viele Juden dem Jesus im Fleisch einmal nachgelaufen sind, ihm zugestimmt, den in Jerusalem Einziehenden mit ihrem "Hosianna!" begrüßt und so seinen Worten in ihrer Weise "geglaubt" haben. Es bleibt ebenso gleichgültig, wie viele von ihnen dann wenige Tage später dem Pilatus ihr "Kreuzige ihn!" zugerufen, und sich gegen Jesus für den Zeloten Barabbas entschieden haben. Alle ohne Ausnahme, die damals und bis auf den heutigen Tag Juden geblieben sind, haben sich damit auf die Seite des jüdischen Nationalisten Barabbas gestellt, d.h. ihr Volkstum gewählt und den Messias verworfen. Man darf darum auch nicht wie der von Juden abstammende Augustinerpater Gregory Baum glauben, das Judentum von seiner Schuld freisprechen zu können, indem man die Verantwortung für den Tod Christi allein den relativ wenigen "Kirchenführern" von Jerusalem, also den Sadduzäern, Schriftgelehrten, Pharisäern usw. anzulasten versucht. Wenn das so einfach wäre, dann könnte sich ja genauso gut der Mensch von heute von der Schuld Adams, also von der Ursünde freigesprochen wähnen. Dass er das nicht kann, beweist jedoch seine Todverfallenheit. Es handelt sich da keineswegs einmal - im Fall Adams - um eine "metaphysische" und das andere mal - im Fall der Juden - um eine "historische" Schuld, vielmehr ist die Schuld der Messiasverwerfung ebenso wenig eine bloß historische Tatsache wie der Sündenfall im Paradies; denn sonst wäre Israel ja gar nicht durch die Erwählung gezeichnet und wäre dem Christus Jesus von vorne herein die Messianität abgesprochen. Dazu aber kann sich die christliche Kirche oder auch nur ein einzelner christlicher Geistlicher unmöglich bekennen, es wäre denn, die Kirche kapituliert als Kirche und der Geistliche als Geistlicher. Geistlich denken heißt nämlich schon nicht historisch denken. Das müssten auch die Väter des Vatikanischen Konzils wissen. Als historisch denkender Mensch denke ich a priori am Geist der Offenbarung vorbei und habe deshalb auch kein Recht, den Juden ihre Schuld am Tod Jesu vorzuhalten. Indem ich so denke, denke ich wie sie und bin ich demnach auch mindestens ebenso schuldig wie sie, ja noch schuldiger, wenn ich mir einbilde, ein Christ zu sein.

Es liegt auf der Linie des Selbstmissverständnisses der Juden, dass sie die Erwählung Israels als Verdienst deuten. Heute geschieht das gewöhnlich in der Weise, dass sich die Juden für ein religiös hervorragend begabtes Volk halten, dem die anderen Völker die "Entdeckung" des Monotheismus, sowie einer diesem entsprechenden höheren Sittlichkeit zu verdanken haben. Früher einmal, als die Menschheit noch nicht so aufgeklärt und so "mündig" war, ließ man wenigstens Gott die Freiheit, das Verdienst aus eigener Souveränität zu belohnen, d.h. man meinte, Gott habe Israel erwählt, weil dieses Volk sich in irgend einer Form vor den anderen Völkern ausgezeichnet hatte, etwa durch seine Bereitschaft, Gottes Angebot anzunehmen. Die folgenden Sätze finden sich in der Schrift von H. J. "Die Tempelzerstörung": "Die Agada von der Annahme der Thora durch Israel, nachdem die Weltvölker sie ausgeschlagen haben, begegnet an zahlreichen Stellen des rabbinischen Schrifttums." Die Fassung in Mechilta lautet: "Als ihre Häuser vom Glanz der Schechina erfüllt waren, in der Stunde versammelten sich alle Weltvölker bei Bileam, dem Frevler. Als sie nun aus seinem Munde das Wort hörten, da wandten sich alle um und gingen zurück, ein jeder an seinen Ort. Und darum wurden die Völker aufgefordert, um ihnen der Schechina gegenüber nicht den Vorwand zu geben, sagen zu können: Wenn wir aufgefordert worden wären, hätten wir sie angenommen. - Siehe, sie sind aufgefordert worden, haben sie aber nicht angenommen." Aus dieser Legende spricht deutlich genug die Verkehrung der Erwählung Israels ins Nationalistische. Israel wird belohnt für seine Einsicht und für seinen Gehorsam.

Ein sehr subtiler Nationalismus wird auch bei dem so tiefsinnigen Franz Rosenzweig ("Stern der Erlösung", III/54) immer wieder spürbar: "So drängt auch die Sprache, sonst den Völkern Trägerin und Künderin des zeitlichen, wandelnden und wechselnden und darum freilich auch vergänglichen Lebens, das ewige Volk gerade zurück auf sein eigenstes, jenseits des äußeren Lebens, nämlich nur in den Adern seines leiblichen Lebens selber kreisenden und darum unvergänglichen Lebens." Gemeint ist das Blut, das die Generationen miteinander verbindet, gerade so als ob dieses Blut weniger irdisch, weniger vergänglich und diesseitig-zeitlich wäre als Sprache, Landschaft usw. Eben dass die Juden ihr Blut, ihre leibliche Herkunft von Abraham, Isaak und Jakob für entscheidend halten und nichts davon wissen wollen, dass Gott dem Abraham auch aus den Steinen Kinder erwecken kann, ist ja ihr Verhängnis, der eigentliche Kern ihrer Verstockung. Die Land- und Sprachlosigkeit der Juden sollte ihnen zum Anstoß werden, auch blutlos zu sein. Aber nein, da sie Land und Sprache verloren haben, versteifen sie sich nun auf das Letzte, was ihnen noch verblieben ist, das gemeinsame Blut. Angehörige eines anderen Volkes, die dann zu den grausamsten und unbarmherzigsten Judenverfolgern wurden, haben sich in der jüngsten Vergangenheit gleichfalls auf ihr Blut berufen und aus ihrer Selbstberufung heraus das jüdische Blut auszutilgen versucht. Sollte das nicht zu denken geben? Verbirgt sich darin nicht so etwas wie eine Selbstadabsurdumführung eines jeden Blutmythos. Woher übrigens die eigentümliche Hochschätzung des Blutes gegenüber der Sprache? In der Geschichte vom Turmbau zu Babel geht es nicht um das gemeinsame Blut, sondern um die gemeinsame Sprache der Menschen und um die Sprachenverwirrung, also um die Entstehung der verschiedenen, einander nun feindlich bekämpfenden Völker, aus denen sodann Israel erwählt wurde, um zunächst als einziges nicht auf die Stimme seines Blutes, sondern auf das "Wort", also auf die Sprache Gottes zu hören und darauf im Glauben zu antworten. Die gemeinsame Sprache bedingt dann wohl auch gemeinsames Land und gemeinsames Blut. Die modernen jüdischen Zionisten jedoch wollen den umgekehrten Weg gehen: Aus dem gemeinsamen Blut suchen sie sich nun auch ein gemeinsames Land (Israel) und eine gemeinsame Sprache (Neuhebräisch) aufzubauen, ein Unternehmen, das unmöglich zum guten Ende führen kann. Das Blut ist gerade das Fließende und damit der Inbegriff der Zeitlichkeit, freilich auch des bewusstlosen Zusammenhanges in der Zeit und insofern der Dauer, aber das doch wirklich nur als deren vorläufiges Symbol und nicht sie selbst. Das Israel kata pneuma, das aus dem Wort Gottes gezeugte, geht über das bloße Symbol hinaus auf das Eigentliche, die Ewigkeit.

Es war eben früher schon das Wort von der Tempelzerstörung gefallen. Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem und die Zerstreuung des jüdischen Volkes, der Weg in die Heimatlosigkeit gehören zusammen und es ist kein Zufall, dass diese Katastrophe beinahe unmittelbar auf die Verwerfung Christi durch die "Seinen" folgte, natürlich nicht als Strafe im juristischen Sinn oder auch nur im pädagogischen, sondern eher als die andere Seite der Messiasverfolgung selbst. In dem Buch "Jüdisch-christliches Religionsgespräch in 19 Jahrhunderten stellt H. J. die jüdischen Versuche zusammen, die Tempelzerstörung und die Zerstreuung im Gegensatz zu der christlich-patristischen Strafdeutung zu erklären und erwähnt dabei auch eine Stelle aus der zeitgenössischen jüdischen Literatur: Gott werden hier die Worte in den Mund gelegt: "denn ich züchtige dich durch Leiden in dieser Welt, um dich von den Sünden frei zu machen für die zukünftige Welt." Eben, weil die Juden diese zukünftige Welt nicht eschatologisch, sondern innergeschichtlich verstehen wollten, verwarfen sie ja die verborgene Herrlichkeit des Messias Jesus und wurden und werden sie noch immer in dieser Welt gezüchtigt. So ist also sogar nach der tiefer verstandenen jüdischen Lehre selbst die Tempelzerstörung, sowie die Zerstreuung unter die Völker eine Art Strafe für die Messiasverwerfung in Gestalt der feindseligen Stellung gegen Jesus von Nazareth. Was ist denn die Sünde Israels oder Judas, für die immer und immer wieder das Gericht über das erwählte Gottesvolk kommt, wenn nicht der Abfall zu den Götzen; und zu den Götzen fällt ab, wer das Weltliche und Zeitliche an die Stelle des Göttlichen und Ewigen setzt, also auf irgend eine Art das Eschaton in die Geschichte verlegt.

Der Tempel hätte übrigens niemals zerstört werden können, wäre niemals der Vergänglichkeit verfallen, wenn er nicht von allem Anfang an das Moment dieser Vergänglichkeit an sich getragen hätte. Die Stiftshütte wurde seinerzeit in der Wüste nach dem himmlischen Vorbild erbaut, das Gott dem Moses auf dem Berg gezeigt hatte. Vom Tempel ist dergleichen an keiner Stelle der Schrift gesagt. Er war vielmehr das Werk königlicher und priesterlicher Prunksucht und somit bereits ein Gebilde säkularisierter Religiosität, ein Objekt in der Zeit. Wer sich an ihn hing, der musste den in Knechtsgestalt erscheinenden Messias unvermeidlich verfehlen. Schon der Prophet Nathan hat in seiner Rede an David (2. Sam. 7, 5f) den beabsichtigten Tempelbau verworfen: "Solltest du mir ein Haus bauen, dass ich darin wohne? Habe ich doch in keinem Hause gewohnt, seit dem Tag, da ich die Kinder Israel aus Ägypten führte, bis auf diesen Tag, sondern ich habe gewandelt in der Hütte und Wohnung." Der Tempelbau bedeutet nichts anderes als Ansiedlung in der Welt und Abweichung vom vorgezeichneten Weg. So ist die Zerstörung des Tempels dessen eigene letzte Konsequenz; denn schon sein Bau war der erste Schritt zur Messiasverwerfung. Die Hütte verhält sich zum Tempel wie der von Gott geliebte Abel, der Hirt zu Kain, dem Ackerbauer und Städtegründer, dessen Opfer von Gott ungnädig angesehen wurde, und in dem Kain den Abel erschlägt, nimmt er bereits die Kreuzigung Jesu vorweg.

 

Das Ethos des nachchristlichen Judentums

 

Während das Ethos des Abendlandes, das freilich keinesfalls mit dem christlichen Ethos gleichgesetzt werden darf, wahrscheinlich aus seinem ursprünglichen Heidentum heraus, einen mehr oder weniger quietistischen Zug verrät (man denke etwa an das bekannte Wort von den "Stillen im Lande" oder an die Hochschätzung der Ruhe als der ersten Bürgerpflicht), ist das jüdische Ethos ausgesprochen dynamisch, man könnte beinahe sagen revolutionär in der Wurzel. Dabei lässt sich hier von keinem eigentlichen, noch weniger von einem einheitlichen Ziel reden, das allen Juden bewusst wäre, auch nicht von einem in irgend einer Form humanistischen; denn das oft so hoch gepriesene humanum erweist sich bei genauerem Hinsehen lediglich als ein humanum judaicum, als die Menschlichkeit im spezifisch jüdischen Verständnis, die in ihrer Verwirklichung in erster Linie dem Judentum selbst zugute kommen würde. Immer aber meint die jüdische Ethik eine, wenn auch nicht genau bestimmbare Gestalt der Weltverbesserung, wobei das Interesse vielmehr dem gilt, was nicht sein soll als dem positiven Ziel des Sein-sollenden. Der gegenwärtige Zustand wird im Blick auf eine vielleicht nur noch ganz nebelhaft vorgestellte Zukunft verneint; denn dieser gegenwärtige Zustand bedeutet unter allen Umständen Zufriedenheit mit dem Bestehenden, Ansiedlung in der Zeit und somit Götzendienst. Als Christen werden wir diese Seite der jüdischen Ethik schon recht beachtlich finden müssen; denn auch uns und gerade uns gilt der Ruf an Abraham: "Gehe aus deinem Vaterland und von deiner Sippschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will." (Gen. 12,1). Hier schrillt der Wecker, der uns aus unserem heidnischen Schlaf und unserem heidnischen Quietismus herausreißen soll. Andererseits aber sind wir damit auch wieder nicht zur innerweltlichen Betriebsamkeit gerufen; denn das christliche Ziel ist ja eben das Eschaton, das sich im Rahmen der Dialektik von Quietismus und Dynamismus niemals fassen lässt.

Im dritten Teil seines großen Werkes sagt Franz Rosenzweig sehr Tiefes über das Wesen der Kunst und vor allem der Musik als Flucht aus der weltlichen und seelischen Wirklichkeit. Indem nämlich die Musik sich ihre eigene ideale Zeit schafft, die Zeit, in der sie und nur sie abläuft, entzieht sich der sie produzierende oder reproduzierende, der singende, spielende und auch der tanzende Mensch der faktisch gegebenen Zeitlichkeit seiner empirischen Existenz. Soweit ist alles richtig und auch vom Standpunkt des christlichen Glaubens aus durchaus anzuerkennen. Dann aber wird behauptet, dass die wirkliche Zeit jene ist, in der wir die Aufgabe haben, unsere Welt anders und besser zu machen als wir sie vorfinden, und hier muß der Christ dem Juden Rosenzweig gegenüber sein Veto einlegen. Wir dürfen uns der Zeit unserer Existenz nicht entziehen, nicht weil wir in ihr etwas besser zu machen hätten, sondern weil wir sie als die Form unserer Verlorenheit und Erlösungsbedürftigkeit abseits aller Illusionen und Tempelbauen hinnehmen sollten. Für den Christen ist die geschichtliche Zeit die Zeit der Geduld, für den Juden hingegen die Zeit der Ungeduld. Der Jude ist nämlich der ungeduldige Mensch par exellence.

Schon einmal wurde jener jüdische Schriftsteller aus der Nachkriegszeit erwähnt, der unter dem Eindruck der Verzweiflung der in den nazistischen Vernichtungslagern gequälten und hingeschlachteten Juden schließlich zu der Meinung sich durchringt, der Mensch, das heißt hier natürlich der jüdische Mensch (oder der Hiobsmensch) habe die Aufgabe, die in dieser Welt von Gott zugelassenen oder vielleicht sogar gewollten Ungerechtigkeiten dem ungerechten Gott zu vergeben. Das ist die absolute Umkehrung des christlichen Glaubens daran, dass Gott dem von ihm abgefallenen und nur darum leidenden Menschen vergibt, bzw., dass es die Liebe Gottes selbst, die sich den Augen des gefallenen Menschen als Zorn und Ungerechtigkeit darstellt. Der Christ Paulus sagt: "Lasset euch versöhnen mit Gott." (2. Kor. 5,20). Dort aber soll Gott mit dem Menschen versöhnt werden. Es liegt am Menschen, dass die Versöhnung zustande kommt. Im gleichen Sinn schreibt Martin Buber: "In der dritten Schicht endlich, die erst in der Kabbala in die Erscheinung tritt, steigert sich die Auffassung der Verwirklichung Gottes durch den Menschen zur Idee einer Wirkung der Menschentat auf Gottes Schicksal." ("Reden über das Judentum"). In der Vorrede schwächt Buber das zwar erheblich ab, aber am Ende bleibt eben doch der entscheidende Akzent auf dem menschlichen Handeln als auf dem Kernstück jüdischer Religiosität bestehen. Das Judentum überwindet sich nicht, sondern übersteigert sich. Es bleibt beim Synergismus, wenn nicht gar Monergismus des Menschen. An der gleichen Stelle wird der biblische Satz Gen. 2,5: "Gott hatte noch nicht regnen lassen auf der Erde und es war kein Mensch das Land zu bebauen" nach dem Sohar dahin erläutert, "es habe kein Werk von oben gegeben, weil es keine Tat von unten gab; dann aber ‚stieg von der Erde Dunst auf, und die Fläche des Landes ward getränkt’, das heißt: durch Wirkung von unten geschah Werk von oben." Hier haben wir genau die, auch von Buber gebilligte Umkehrung des wahren Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. In solcher Umkehrung, dem kontradiktorischen Gegenteil der "Bekehrung", redet, wirkt, handelt der Mensch, während Gott antwortet, wenn er nicht gar erst durch das Reden und Wirken des Menschen seiner reinen Gottheit nach gezeugt wird. Tatsächlich aber redet und handelt Gott zuerst ("Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde"), und des Menschen Bestimmung bleibt es, auf die Rede Gottes zu antworten. Eben hier liegt der Unterschied zwischen Judentum und Christentum. In der Menschwerdung Christi nämlich offenbart sich unzweideutig der immer zuerst handelnde und auf die menschliche Antwort wartende Gott. Christus ist sozusagen der Gipfel göttlicher Aktivität und Priorität, die aller menschlichen Tätigkeit vorausgeht und diese überhaupt erst ermöglicht. Das Judentum redet aus der Verkehrung heraus und sucht auch die Bekehrung noch auf dem Weg der Verkehrung.

Während aber in dem sich auf eine unmittelbare Offenbarung von oben stützenden Judentum die Jenseitigkeit Gottes immerhin noch gewahrt und das göttliche Handeln vom menschlichen getrennt bleibt, fließen im Islam beide ineinander. "Gottes Wege sind ein Walten göttlichen Ratschlusses hoch über dem menschlichen Geschehen. Das Wandeln auf dem Weg Allahs aber bedeutet im engsten Sinne die Ausbreitung des Islam durch den Glaubenskrieg . . . der Weg Allahs bedeutet unmittelbar den Weg seiner Gläubigen." (Rosenzweig, Der Stern der Erlösung’). Der Weg der "Gläubigen", das ist also der Weg des natürlichen autonomen Menschen, und der Weg der menschlichen Autonomie wird hier im Islam als Weg des autonomen Gottes in den Himmel projiziert. Allah ist, so könnte man sagen, der absolut gesetzte oder deifizierte gefallene Mensch, der Archanthropos der Gnosis. Islam heißt soviel wie "Ergebung in Gott". Der Mensch verliert Gott gegenüber jede Freiheit, das ist die eine Seite, aber die Kehrseite zeigt einen Gott, dessen eigene absolute Freiheit im dialektischen Gegensatz steht zur menschlichen Unfreiheit und gerade insofern nur die äußere Aufgipfelung menschlicher Independenz darstellt. Tendiert im Judentum die Ethik zum Monergismus des Menschen, so haben wir im Islam den göttlichen Monergismus vor uns, in den jener sich selbst übersteigernd, umschlägt. Im Islam wird der Allgott zum Abgott, zum wieder heidnischen Menschengott.

In der alttestamentlichen Offenbarung und Gesetzlichkeit erscheint, wie schon gesagt wurde, die Ursünde, die Gefallenheit des Menschen seiner Natur nach vorläufig ausgeklammert. Das nachchristliche Judentum hält an dieser Vorläufigkeit fest, woraus allein sich der spezifische Charakter seines Ethos erklärt. Hier hat der Mensch die Aufgabe, "Gott die Welt zu einem Ort seiner Wirklichkeit zu bereiten; der Welt beistehen, dass sie gottwirklich werde . . . In diesem unserem Dienst am Werden des Reichs erscheint die Entgegenkunft des Menschen (nämlich dem Kommen Gottes entgegen) zu welthaftem Wirken erhöht." "Alle Menschen kennen irgendwie, noch so dumpf, diese Berufung unseres Menschseins." (Buber, "Reden über das Judentum", XVIII). Das sind gewiss sehr schöne und sehr tiefe Worte, sie gelten aber leider unmittelbar nur für den Adam im Paradies, für den status integritatis, aber nicht für uns, die wir aus dem Paradies vertrieben sind. Von jenem Adam vor dem Fall heißt es Gen. 2,15: "Und Gott, der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baute und bewahrte."

Bauen und bewahren, das bedeutet, die Schöpfung auf Gott hin zusammennehmen. Wir aber leben nicht mehr im Garten Eden, sondern auf dem Acker, der Dornen und Disteln treibt, in dessen Erdlöchern Skorpione, Spinnen und Giftschlangen hausen. Wir sind in keiner Weise fähig, diesen Acker zu einem Ort der Wirklichkeit Gottes zu bereiten; auch nicht indem wir die Dornen und Disteln verbrennen, sowie die Giftschlangen und Skorpione austilgen; denn wer austilgt und verbrennt, wandelt schon nicht mehr auf den Wegen Gottes. Auch das Leben der dornigen Pflanzen und der giftigen Tiere bleibt noch immer Leben aus der Hand des Schöpfers, also unantastbares Leben. Dass unsere Welt vom Garten Eden durch einen Abgrund getrennt ist und dass vor der Pforte Edens die Cherubim mit dem flammenden Schwert stehen, das eben wollen die Juden nicht zugeben und gerade das ist ihr Verhängnis, während der Christ, sofern er diesen Namen verdienen sollte, sich ganz allein auf Christus wirft, den "neuen Adam", der tut, was der alte versäumt hat und nicht mehr nachholen kann. "Alle Menschen kommen Gott irgendwo, in irgend einer Einsamkeit ihres Schmerzes oder ihrer Gedanken, nah; es gibt keinen unverwundbaren Heiden. Aber der Jude wagt es, weltverhaftet, welteingebannt zu Gott in der Unmittelbarkeit des Ich und Du zu stehen - eben als Jude. Das ist die Urwirklichkeit des Judentums." Genau das gilt jedoch - wenigstens vom nachchristlichen Judentum - nicht; denn dieses Judentum, das den, der in sein Eigentum kam, nicht angenommen hat, versucht immer weiter, aus der allgemeinen menschlichen Gefallenheit heraus den verfluchten Acker so zu beackern, als ob er noch die Asthodeloswiese des Paradieses wäre, richtiger gesagt, es hält sich eines solchen Versuches für fähig; denn was tatsächlich dabei herauskommt, ist bereits im Ansatz weit von ihm entfernt.

In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung scheint die jüdische Messiaserwartung noch nicht ganz so uneschatologisch und historisch gebunden gewesen zu sein wie dann später, wenigstens nicht bei einem großen Teil der Schriftgelehrten und Theologen, deren Aussagen uns überliefert sind. "Die Erwartung der Wiederherstellung Jerusalems . . . ist seit den Tagen Bar Kochbaas keine politische Erwartung mehr, sondern eine mettapolitisch-messianische - jeweils konkret: für den morgigen Tag . . . Zion wird nicht durch Waffengewalt, auch nicht durch wirtschaftliche Kolonisation erlöst werden", sondern, wie es in Jes. 1,27 heißt: "Zion muss durch Recht erlöst werden und ihre Gefangenen durch Gerechtigkeit." (H. J. Schoeps, "Die Tempelzerstörung des Jahres 70 in der jüdischen Religionsgeschichte"). Trotzdem aber kann sich auch die jüdische Apokalyptik niemals ganz von Geographischen und Nationalen freimachen; die eschatologische Hoffnung transzendiert nicht bis zum letzten Rest die innerzeitliche und innerweltliche Realität.

Nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 versuchen die Juden vielfach das Ausfallen des Opferdienstes zu bewältigen, indem sie diesen spiritualisieren und ins Symbolische umdeuten, womit sie sich aber, ohne das zu wissen und zu wollen, dem eschatologischen Christentum annähern, freilich nur in der Gestalt, wie sie selbst es verstehen oder missverstehen, eben als Verinnerlichung oder Vergeistigung. "Die Aboth des R. Nathan cap 4 (Dubl. Jalk. Hos. § 522) berichtet darüber, dass er zu einem Schüler, der an der Stätte der Zerstörung beim Anblick der Ruinen (des Tempels) in Tränen ausbrach, die Worte sprach: ‚Trauere nicht, mein Sohn! Wir haben ja eine Sühne, die jener gleicht.’ ‚Welche ist das?’‚Es sind die Liebeserweisungen." Schoeps, dessen genanntem Buch diese Stelle entnommen ist, merkt gar nicht, dass, indem er sie zustimmend zitiert, seine eigene Polemik gegen die "allegorische" Umdeutung des alttestamentlichen Gesetztes, bzw. dessen symbolische Auslegung, etwa durch Paulus, zusammenbricht. Dass es auf die blutigen Opfer, wie sie im Tempel dargebracht werden, zuletzt gar nicht ankommt, das haben ja schon längst die Propheten gelehrt: "Was soll mir die Menge eurer Opfer? Spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke." (Jes. 1,11) "Waschet, reinigt euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasst ab vom Bösen, lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führet der Witwe Sache." Hier wird bereits das Opferritual eschatologisch und nicht etwa nur moralisch transparent. Hätten es die Juden wirklich in diesem Sinne verstanden, dann hätten sie an dem Messias Jesus, an dem Licht, das in der Finsternis scheint, nicht einfach vorbeigehen können. Die Mahnung des R. Nathan an seinen Schüler, seine Trostworte kommen also zu spät. Sie meinen ja auch gar nicht die letzte und eigentliche Wahrheit, sondern wieder nur eine Spiritualisierung im Rahmen des zeitlichen Lebens, mit der Messianität des Jesus von Nazareth gar nichts zu tun hat. Die Liebeserweisungen, von denen Nathan redet, sind immer noch nur menschliche Möglichkeiten auf dem Boden des Gesetzes, rein ethische Möglichkeiten und als solche weit entfernt von der Liebe, die das Evangelium predigt und zu der kein Mensch ohne die Gnade Christi jemals geschickt ist.

In der gleichen Schrift sucht Schoeps zu belegen, dass nach maßgeblicher jüdischer Auffassung "der Neubau des Tempels erst in den Tagen des Messias von statten gehen wird." "Dieser Glaubenshaltung erscheinen alle Versuche zur Beendigung der Galut (Zerstreuung) ohne diese in Gottes Hand liegende Bedingung als Versuche, das Gottesreich vor der Zeit zu errichten." "Für den Aufstandsversuch Bar Kochbaas (gilt) das Urteil aus dem 4. Jahrhundert, dass sein Geschlecht eines der Geschlechter war, die zu Fall kamen, weil sie das Ende bedrängen wollten. Dieser Terminus ‚Das Ende bedrängen’ . . . meint den Versuch, das Gottesreich vor der bestimmten Zeit aufzurichten." "Vor der Zeit" klingt aber immer noch zu wenig eschatologisch. Richtig müsste gesagt werden: "Innerhalb der empirischen zeitlichen Geschichte". Genau so könnte etwa auch Luther gegen Thomas Münzer argumentiert haben. Es wird ja immer der Abfall der Juden, ebenso wie später der Christus, dass sie den verheißenden Äon des Heils in die Zeit verlegen wollten.

 

Die Wurzeln des Judenhasses

 

Über die Ursachen und Formen des Judenhasses, des sogenannten Antisemitismus, vor allem im "christlichen" Abendland, wird noch später an seiner Stelle ausführlich zu reden sein. Vorläufig sollen nur einige grundsätzliche und allgemeine Andeutungen zum Verständnis dieses Phänomens vorausgeschickt werden. Israel wurde von Gotte erwählt und ausgesondert aus der Völkerwelt auf den Messias, auf den Erlöser, auf den Heiland hin. Durch diese seine Erwählung erscheint Israel für die anderen weniger ausgezeichnet als gezeichnet. Es hat die schwere Last der Gottesknechtschaft mit allem, was zu ihr gehört, zu tragen. In den Augen der gefallenen Welt zeigt sich der wahre Gott selber in "Knechtsgestalt" im Gegensatz zu aller heidnischen und das heißt natürlich-menschlichen Herrlichkeit. Sein Volk kann und darf darum gleichfalls nicht teilhaben an solcher Herrlichkeit, an dem Prunk und Glanz außerparadiesischer Größe. Es hat "weder Gestalt noch Schöne", und da ist nichts an ihm, was der Welt gefallen würde. Das ist der Grund, weshalb es von Anfang an unvermeidlich die Verachtung, die Abneigung und den Hass der anderen herausfordern muss. Allein durch sein bloßes Dasein stellt es alles in Frage, was den übrigen Völkern "heilig" erscheint, ihre Abgötter, ihre Ideale, ihre Kulturwerte usw. Jeder Heide, jeder unbekehrte Mensch überhaupt, also auch der "Christ" seiner Natur nach, sofern er nichts vom Geist Gottes vernimmt (1. Kor. 2,14), ja sogar der Jude selbst, indem er wie die anderen sein will, und sich damit seiner Erwähltheit zu entledigen sucht, ist aus seinem innersten Wesen heraus Antisemit. Mit der Erwählung wurde Israel das Mal des Märtyrertums auf die Stirn geschrieben. Nur als der gelähmte Mann mit dem verrenkten Hüftgelenk konnte Jakob den Namen Israel empfangen. Hier haben wir die erste und tiefste Wurzel des Judenhasses, der nur die Hassenden und nicht die Gehassten in Frage stellt.

Im vollen Umfang gilt das alles aber freilich nur von dem wahren Israel und nicht von dem anderen, das seine Berufung verfehlt hat und den in sein Eigentum Gekommenen verstieß, das seine Aussonderung als Auszeichnung verstehen wollte und noch immer verstehen will. Zwar macht diese Verkehrung die Feinde Israels in keiner Weise gerecht, wohl aber macht sie die Verkehrten ungerecht, so dass diese nun an dem Hass, der ihnen begegnet, ihre eigene Schuld erkennen müssten. Auf die Frage: Wer trägt die Verantwortung für den Antisemitismus? Kann nur geantwortet werden: Die Juden, wenn sie danach fragen, und die Christen oder die, die sich für Christen halten, ebenfalls, wenn sie danach fragen. Vor dieses Phänomen gestellt hätten, also sowohl die Juden wie auch ihre Gegner immer an die eigene Brust zu schlagen und ihr mea culpa zu sprechen.

Der Antisemitismus des Altertums gilt ganz unzweideutig dem Charakter, der sich aus der Erwählung Israels ergibt, aus dem Makel - Makel nach Maßstäben der "Welt" - seiner Gottesknechtschaft. "Der Grundvorwurf ist, dass sie (die Juden) eine ‚durch Schmähung der Gottheiten bemerkenswertes Volk’ seien (Plinius, Hist. V, 13(: religionibus adversa), ja durch Kultverweigerung gegenüber der jeweiligen Lokalgottheit ihrer außerpalästinensischen Wohnsitze - schlechthin ‚gottlos’ (Apollonius Molon nach Josephus, Contra Apionem II, 14" (Karl Thieme, Judenfeindschaft). Den Juden ebenso wie den Christen als einer "jüdischen Sekte" wurde nach Tacitus das bekannte und oft erwähnte odium humani generis, der Hass gegen das Menschengeschlecht und eigentlich gegen das Menschliche überhaupt, wozu vor allem auch die menschlichen Religionen gehören, vorgeworfen. Juden wie Christen verweigerten das Kaiser-Opfer, und wo immer man darum die Juden verfolgt, die Christen aber gelten lässt, haben diese allen Grund, in sich zu gehen und Gewissenserforschung zu üben. Allerdings haben die Juden nach Christus für die Götzen, die sie umstoßen, nichts anzubieten; denn der Spezialgott Israels ist ja genau so ein Götze wie jeder andere. Diesen Gott, soweit sie selbst noch an ihn glauben, nehmen sie für sich allein in Anspruch, und in dieser Hinsicht sind sie sogar noch schlimmer als die Mohammedaner, die doch wenigstens Weltmission treiben und ihrem Gott bei allen Völkern Anerkennung zu verschaffen suchen.

Den abendländischen wirtschaftlich begründeten Antisemitismus hat es im Altertum, selbst bei den sehr judenfeindlichen Römern um die Zeitwende niemals gegeben. Weder Tacitus noch Plinius noch Cicero führen in ihren Schmähschriften gegen die Juden wirtschaftliche Argumente an. Ihnen allen erscheint immer nur die jüdische Ablehnung der heidnischen Gottheiten samt allem, was mit diesen in Zusammenhang steht, erwähnenswert und verwerflich. Der Vorwurf des Wuchers wie überhaupt der unlauteren Selbstbereicherung auf Kosten der Nicht-Juden wird erst im Mittelalter laut, was aber durchaus nicht besagt, dass es sich hier nicht um eine Erscheinung handelt, die irgend etwas mit dem jüdischen Wesen zu schaffen hat. Der in die Form der rationalen Zeit gebannte und auf ein innerzeitliches Ziel ausgerichtete, das futurum temporis anstrebende Chiliasmus geht eben immer und überall in jeder Weise auf den Erfolg, zuletzt auf den materiellen Erfolg, dessen abstrakter Ausdruck der Geldgewinn ist, weil sich mit Geld alle materiellen Güter kaufen lassen. Aus dem Sinn wird mehr und mehr der bloße Zweck. Und wenn es auch gewiss nicht zutrifft, dass ausnahmslos alle Juden einen besonderen Hang zu Geld und Reichtum, zu Handel und Finanzgeschäften haben, so bleibt nichtsdestoweniger wahr, dass sie fast auf allen Gebieten leidenschaftlich den Erfolg, den sichtbaren Erfolg, wenn auch nicht unbedingt den eigenen individuellen suchen. Daher auch etwa ihre unleugbare Bedeutung in der medizinischen Wissenschaft, als Gelehrte, als politische und soziale Utopisten usw. Was immer sie tun, sie jagen einer besseren Zukunft nach, einem diesseitigen, in der empirischen Geschichte zu verwirklichenden Paradies. Sie arbeiten mit kaum zu überbietendem Fleiß, und der Fleiß ist die typische Tugend - wenn man ihn schon eine "Tugend" nennen will - des vom Zweckdenken besessenen Menschen. Dasselbe lässt sich aber auch von den Christen sagen, sofern sie einem säkularisierten Christentum huldigen wie z. B. die angelsächsischen, vor allem die nordamerikanischen Calvinisten mit ihrer "innerweltlichen Askese" (Max Weber). Hier vermischt sich in eigentümlicher Weise eschatologische Hoffnung mit einem ganz flachen weltgebundenen Optimismus.

Der Abfall der Christenheit, genauer ihr Rückfall ins Judentum, nämlich in das nach- und antichristliche Judentum beginnt schon in dem Augenblick, da mindestens ein größerer Bruchteil der Christen in der Erwartung der Parausie ungeduldig wird und damit die Wiederkunft des Herrn als ein noch ausstehendes historisches, statt als das alle Historie aufhebende Ereignis versteht. Der Keim dazu ist bereits in der Apostelzeit, ja bei den Aposteln selbst angelegt, allerdings noch in den vorpfingstlichen Tagen, wie ihre Frage an den Auferstandenen vor dessen Himmelfahrt nach der Wiederaufrichtung des Reiches Israel erkennen lässt. Erst der Pfingstgeist öffnet den Aposteln den klaren Blick für den eschatologischen Sinn der Verheißungen. Judentum und Christentum bleiben aber weiterhin ihrer Trennung voneinander und allen Widersprüchen zum Trotz zusammen die eine Gemeinde Gottes, und diese "eine Gemeinde Gottes hat in ihrer Gestalt als Israel der Darstellung des göttlichen Gerichtes, in ihrer Gestalt als Kirche der Darstellung des göttlichen Erbarmens zu dienen. Sie ist in ihrer Gestalt als Israel zum Hören, in ihrer Gestalt als Kirche zum Glauben der an den Menschen ergangenen Verheißung bestimmt. Es ist der einen erwählten Gemeinde Gottes dort ihre vergehende, hier ihre kommende Gestalt gegeben." (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik). Israel erscheint somit dem sterblichen und leidenden, die Kirche dem auferstandenen Leib Christi zugeordnet. Leiden bedeutet unter dem Gesetz stehen, auferstehen der Macht des Gesetzes überhoben sein. Wie aber der Auferstandene und der Gekreuzigte ein und derselbe ist, so sind auch die christliche und jüdische Gemeinde eine und dieselbe. In der alttestamentlichen Gemeinde ist der Mensch angeredet und darum berufen zu hören - "Höre Israel", in der neutestamentlichen ist er berufen zu antworten: "Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben."

CHRISTEN UND JUDEN IM SPÄTRÖMISCHEN REICH

 

Der Pakt mit der Welt

 

Der Mensch, jeder einzelne Mensch, altert, er entgleitet der Zeit oder besser, die Zeit entgleitet ihm, sie läuft ihm davon und über ihn hinweg, sie hört mehr und mehr auf, Form seiner eigenen Lebendigkeit zu sein und wird leere abstrakte Form des äußeren, objektiven Geschehens, dessen Objektivität eben in seiner Zeitverfallenheit besteht, der sich nun notwendig auch als der Mensch selbst einordnen muss als der in der Zeit Entstandene und in ihr Vergehende. Die Zeit als reine Vergänglichkeit ist ihrem Wesen nach inhaltslos, bloße Bewegtheit, in der sich tatsächlich nichts mehr bewegt, die keinen Anfang und kein Ende, keinen Ursprung und kein Ziel hat wie die unendliche geometrische Gerade. Je mehr sich die Zeit diesem Extrem annähert, um so weniger ist von ihr zu erhoffen; denn sie ist ja nur das Nichts des Noch-Nicht und des Nicht-Mehr, des Vorher und Nachher. Alles Wirkliche schrumpft in ihr zum dimensionslosen Punkt zusammen, zum unendlich Kleinen im dialektischen Gegensatz zum unendlich Großen, die beide die verschiedenen Ansichtsseiten des gleichen Nichts sind. Da aber der alternde Mensch schließlich bloß noch diese Zeit allein kennt und dennoch in ihr, der grundsätzlich lebensfeindlichen und lebensvernichtenden leben will, hat er nur die Möglichkeit, in sie, in die absolute Hoffnungslosigkeit hinein seine Hoffnungen als Illusionen zu projizieren, der Sinnlosigkeit einen Sinn anzudichten.

Das alles aber gilt wie vom Einzelnen, so auch von der ganzen geschichtlichen Welt. Auch sie ist in einem weder aufzuhaltenden noch gar rückgängig zu machenden Prozess des Alterns begriffen. Jedes Volk, jeder Staat, jede überindividuelle Ordnung, ja überhaupt alles Wirkliche ist dem Gesetz dieses Prozesses rettungslos verfallen. Daran lässt sich nichts ändern. Wären wir nur auf die zeitliche Zukunft, auf das gewisse futurum temporis angewiesen, dann bliebe uns nur entweder der Selbstbetrug der Illusion oder die nackte Verzweiflung. Dass wir auf sie nicht angewiesen sind, kann freilich niemals bewiesen werden, sondern bleibt ganz allein Angelegenheit des Glaubens, eines Glaubens nämlich, den uns in mehr verhüllter Form bereits das Alte Testament und dann in ganz klaren Worten das Neue Testament allerdings zumutet. Die Offenbarung der Bibel verweist den Menschen aus seiner entewigten Zeit heraus auf das aus ihr Vertriebene oder ihr Entglittene hin. Nicht, als ob er fähig wäre, sich aus eigener Kraft und eigenem Entschluss aus der Todeszeit in die Lebenszeit hinüberzuschwingen, sondern nur so, dass sie ihn auffordert, sich glaubend der Wirklichkeit zu versichern, die in Wahrheit viel wirklicher ist als alles, was er natürlicherweise für wirklich hält, ja die einzige Wirklichkeit überhaupt, denn die andere Wirklichkeit ist ja am Ende doch nur die Unwirklichkeit des Todes. Das Festhalten am Geoffenbarten und Geglaubten, wir haben es früher das Eschatologische genannt, ist aber so schwer, dass man von ihm immer wieder zurückgleitet in die empirische Zeit und auch den Offenbarungsinhalt selbst in sie verlegt, ihn also säkularisiert. So hat, wie schon gezeigt wurde, das alte Israel die ihm gegebenen Verheißungen mehr und mehr säkularisiert, und so hat, wie wir sehen werden, auch die Christenheit ihr Heil, bzw. ihren Glauben an das Heil, nicht rein erhalten, sondern in immer neuen Formen mit dem Weltlichen und Zeitlichen vermengt, sich Illusionen aufgebaut, wo es gerade darauf angekommen wäre, allen Illusionen zu entsagen und sie zu verabschieden. Der Mensch ist eben, wenn ihm nicht ständig geholfen wird, zu schwach, einfach sein Kreuz auf sich zu nehmen und dem nachzufolgen, der ihm auf dem Kreuzweg vorangegangen ist. In seiner Todesangst versucht er schließlich doch, sich an die sichtbare, augenfällige und scheinbar so nahe liegende Wirklichkeit zu klammern. Darum verlangten die Israeliten einen König wie ihn die anderen Völker auch haben, und darum verlangten die Christen einen Kaiser. Davon soll in den nun folgenden Kapiteln die Rede sein.

Das Urchristentum der Apostel und ihrer unmittelbaren Nachfolger stößt zunächst zusammen, erstens mit den nationalistisch-messianischen und damit christusfeindlichen Juden, denen es ein Ärgernis ist, und zweitens mit dem spätantiken römischen Mythos, mit dem Mythos des Gott-Kaisers. Hier wie dort sind die Christen vorerst die Angegriffenen und in keiner Weise die Angreifer. Duldsam und damit aufgeschlossen für das Christentum wird das Römische Reich erst in dem Augenblick, da der Kaiser-Mythos zu verblassen beginnt, weil es, dieses Reich, nun an der Schwelle seines eigenen Unterganges steht. Die Offenheit für die evangelische Botschaft bedeutet also durchaus nicht ein Symptom der Genesung, sondern ganz im Gegenteil ein Anzeichen beginnender Agonie. Einem noch lebenskräftigen heidnischen Mythos hätte das Kreuz nichts anhaben können, ihm wäre es nichts als eine lächerliche "Torheit" geblieben. Einem zerfallenden und unglaubhaft gewordenen Mythos jedoch hat die Zeit, die Zukunft nichts mehr zu bieten, weshalb der Glaube, der die Welt überwindet, nicht mehr als feindlich, nicht mehr als odium humani generis empfunden wird. Hier steht nun aber der Christ vor der schweren Versuchung, sich innerhalb der Welt selbst für einen Sieger über die Welt zu halten und in dem Irrtum zu verfallen, er habe das offene Ohr der Welt als solcher gefunden, so dass das Christentum jetzt die Möglichkeit hat, "Welt-Religion" zu werden, womit sowohl der Kirche als Trägerin dieser Religion wie auch der Welt, dem Welt-Reich gedient wäre. Dagegen muß mit allem Nachdruck betont werden: Das heidnische Rom, das dem Christentum Widerstand leistete, das die Christen verfolgte und sie in der Arena den wilden Tieren vorwarf, war - so paradox das auch klingt - in seiner Weise gesünder als das spätere, das aus dem Glauben an Kreuz und Auferstehung Christi eine Staatsreligion machte; denn wer unwürdig in weltlicher Gesinnung das Brot Christi isst, der isst sich das Gericht (1. Kor. 11, 29), der empfängt nicht Nahrung, sondern Gift. Und auch umgekehrt: Die Kirche, die unter der Verfolgung stand und deren Glieder erbarmungslos hingeschlachtet wurden, war gesünder als die andere, die sich im Licht weltlicher Anerkennung und Hochschätzung sonnen durfte. Nur im jeweils ersten Fall war die Welt die echte Welt und die Kirche die echte Kirche. Nur das Rom, das an sich nicht mehr glaubte, konnte christlich werden, und nur die Kirche, die an sich nicht mehr glaubte, konnte römisch werden.

Indem also, das Römische Reich als solches christlich wird oder, was dasselbe sagt, die Christen als solche römische Bürger werden, wird der Sinn des christlichen Kerygmas, das uns herausruft aus dieser Welt ("habt nicht lieb die Welt!"), aus Babylon wie aus Rom, geradezu in sein Gegenteil verkehrt, wird der eschatologische Kern der Botschaft verleugnet. Die vom Christentum allerdings geforderte Katholizität, die Allgemeinheit, das Übernationale in der Unterordnung unter den göttlichen Willen und das göttliche Gericht wird im christlichen Reichsgedanken imperialistisch verfälscht, gleichgültig ob es sich dabei um einen Papacäsarismus oder einen Cäsaropapismus handelt; denn da wie dort versucht der Mensch das Reich des Israel nach dem Geist auf die Erde herabzuholen.

Politisches Denken, wie immer sich auch die Polis selbst bezeichnen und verstehen mag, bleibt zweckhaftes Denken, auf ein Ziel in der Zeit ausgerichtet. Das Denken des Lebendigen dagegen ist niemals zweckbestimmt. "Eine Blume . . . leitet ihren Samen nicht auf dem schnellsten Weg, wie in einer Röhre, zum nächsten Jahr hin, sondern sie blüht während vieler Tage im Übermaß aller Farben. Dieses Übermaß der Farbe gilt, und nur nebenbei fallen die Samen herunter. Um der Fülle, um des Daseins in der Fülle willen ist die Blume da, nicht wegen des schmalen, raschen Weges zum Ziel. Durch das Mehr braucht ein Ding der Schöpfung sich nicht auf, es erhält sich in seinem Mehr. Eine Maschine hat das Mehr nicht, sie ist eben dadurch Maschine. . ." (Max Picard, Bert Brechts "Legende" in "Universitas", Febr. 1963). Was mit diesen Worten, die freilich an sich noch keine christlichen Worte sind, gesagt wird, kann uns als Gleichnis dienen, ähnlich wie die Worte Christi von dem in die Erde versenkten Weizenkorn. Die Fülle der zwecklos blühenden Blume hat immerhin noch etwas an sich vom Widerschein der Ewigkeit, der noch unzerstörten Schöpfung, des Paradieses nach der Zeit, vom unvergänglichen Heute, das ja doch auch die Botschaft meint, die vom kommenden Reich redet, von der heiligen Stadt und vom neuen Jerusalem, das von Gott aus dem Himmel herabfahren soll.

Augustin, über dessen Lehre vom Gottesstaat noch am Ende dieses Kapitel ausführlicher gesprochen werden soll, kam erst zur Welt (354), als der Kaiser Konstantin, auch "der Große" genannt, bereits gestorben war (337). Er kannte also das ältere heidnische Rom, das die Christen verfolgte und tötete, nicht mehr aus eigener Erfahrung. Trotzdem nennt er, wie schon mancher frühere christliche Schriftsteller, darunter wohl auch der Verfasser der Johannes-Apokalypse, die Stadt Rom das zweite oder auch das abendländische "Babylon". Nach dieser Auffassung, und sie scheint uns die zutreffendste zu sein, ist alles, was sich an diese Stadt bindet, auch das Reich Konstantins, ja selbst das spätere "Heilige Römische Reich" seinem Wesen nach babylonisch, nämlich weltstaatlich und nicht gottesstaatlich. Bei dem Wort oder dem Namen Babylon denken wir hier weniger an einen Ort sittlicher Verkommenheit, also an die "Hure Babel" der Apokalypse, als vielmehr an die Stätten des Turmbaues im Lande Sinear, von dem das 11. Genesiskapitel berichtet. Babel bedeutet Verwirrung der Sprachen und damit Entstehung der verschiedenen Völker, die einander von nun an nicht mehr verstanden, sich gegenseitig den Raum streitig machten, Kriege mit einander führten usw., kurz, das in die Wege leiteten, was man die Welt-Geschichte nennt. Jedes dieser Völker ist für sich ein besonderer Repräsentant der historischen Zeitlichkeit aus der ihm eigenen besonderen Abgötterei heraus, weshalb im AT wie im NT "Völker" und "Heiden" Wechselbegriffe sind. Wenn Rom und Babel einander gleichgesetzt wurden, so heißt das nichts anderes, als dass für die alten Christen die Metropole des damaligen Weltreiches Inbegriff der in der Zeit abgefallenen Menschheit war im Gegensatz zum eschatologischen Gottesreich, und das gilt vom Reich Konstantins und seiner "christlichen" Nachfolger auf dem Thron der Cäsaren ebenso wie vom Reich des Tiberius, Neros oder Diokletians.

Wie das Christentum Konstantins selbst, wenn sich davon überhaupt sprechen lässt, noch ein höchst zweifelhaftes war, so wurde durch sein Toleranzdelikt der christliche Glaube auch noch nicht zur absoluten Staatsreligion erhoben, die allen anderen Religionen vorgeordnet war. Das geschah erst durch die Edikte seines Nachfolgers Konstantinus, "Aber trotzdem blieb", wie Alois Dempf (Sacrum Imperium) betont, "das kaiserliche Recht heidnisch-religiös, die Edikte blieben sacra, und damit blieb die eine Hälfte der Öffentlichkeit heidnischen Charakters." Das trifft freilich ohne Ausnahme auf alle angeblich christlichen Staatsgebilde zu, gleichgültig, ob sie aus der Wurzel des heidnischen Rom oder aus irgendeiner anderen entsprossen sind, weil sie eben als politische Gebilde auf der historischen und nicht auf der eschatologischen Ebene liegen.

In der Beurteilung Konstantins und seines Reiches gehen die Meinungen der verschiedenen christlichen Konfessionen, vor allem der katholischen und der reformatorischen Theologie weit auseinander. Ist der Katholizismus im allgemeinen geneigt, in der Erhebung des Christentums zur römischen Staatsreligion einen Triumph des Glaubens zu sehen, so meint der Protestantismus darin in der Hauptsache eine Art Abfall von der evangelischen Eschatologie in die unheilige Weltlichkeit zu erkennen. Vielleicht ist die ganze Wahrheit weder auf der einen noch auf der anderen Seite zu finden. Gewiss ziehen wir die protestantische Auffassung vor, weil sie allein dem biblischen Verständnis der Profangeschichte als des Weges zum Ende der zeitlichen Welt und zum Jüngsten Gericht angemessen erscheint. Andererseits aber darf auch nicht verkannt werden, dass das Negative gleichfalls im Dienst des göttlichen Heilsplanes und also des Positiven steht. So mag also etwa die leidvolle Zerstreuung Israels über die ganze Erde durchsichtig werden für den verborgenen Willen Gottes, die ganze Menschheit zu einer einzigen heiligen Gemeinde zusammenzuführen, und so mag in ähnlicher Weise die an sich zweifellos unheilige Machtentfaltung der christlichen Kirche wie des Christentums als Staatsreligion indirekt hinweisen auf das Herannahen des Gottesreiches jenseits der Zeit. Auch die irdische Pracht des römischen Papstes ist unter diesem Gesichtspunkt ein durchaus zweideutiges Phänomen: auf der einen Seite verhängnisvolle Säkularisierung der himmlischen Herrlichkeit, auf der anderen Seite und für die Augen eines in bestimmter Weise strukturierten Glaubens aber gerade umgekehrt ein Gleichnis eben dieser Herrlichkeit. Nicht allen Menschen ist es möglich und ist es gestattet in derselben Art zu glauben oder, vielleicht richtiger gesagt, ihren Glauben in dieselbe Bildersprache zu kleiden.

Als typisches Beispiel für die katholische Auffassung zitieren wir hier einige Sätze aus Alois Dempfs eben genannten Werk "Sacrum Imperium": Dass Konstantin das Christentum als freie Ordnung des Vertrauens, als volkserzieherische Autorität und als öffentliche Weltanschauung durch eine Lehrautorität erkannt hat, das ist der politische Sinn seines Religionsdeliktes . . . Konstantin besaß den intuitiven Weitblick, das immanente Staatsethos der christlichen Kirche zu erkennen, vielleicht gerade weil er selber keine positive Frömmigkeit besaß und rein politisch dachte." "Es ist zweifellos für jeden, der den gemeinmenschlichen Glauben der Heiden und Christen an die Partnerschaft des Gotteswillen mit der Geschichte kennt, dass Konstantin die Genialität seiner Entscheidung durch göttliche Inspiration begründet hat." Ausdrücke wie "volkerzieherische Autorität", "öffentliche Weltanschauung durch Lehrautorität", "intuitiver Weitblick", "immanentes Staatsethos, der christlichen Kirche", "gemeinschaftlicher Glauben der Heiden und Christen an die Partnerschaft des Gotteswillens mit der Geschichte" und endlich "Genialität der Entscheidung durch göttliche Inspiration" können in einem protestantischen Gemüt geradezu eine Art von geistlichen Brechreiz hervorrufen, vor allem nachdem Karl Barth der reformatorischen Theologie seine heilsamen Stöße versetzt hat. Auch mir geht es zunächst nicht anders. Aber trotzdem möchte ich mich im Blick auf das eben früher Gesagte doch etwas vorsichtiger verhalten und dem Brechreiz nicht ganz widerstandslos nachgeben. Es könnte sein, dass alle diese zweifellos mehr als fragwürdigen Wortgebilde unter der Voraussetzung der Abskondität Gottes auch für den Durchschnittschristen protestantischer Herkunft immer noch ihren guten Sinn haben. Selbst das berühmte "In hoc signo Vinces!" Auf den wahrscheinlich nur legendären Feldzeichen der konstantionischen römischen Legionen sollte so betrachtet nicht kurzweg als Gotteslästerung abgetan werden. Freilich ist der Sieg des Kreuzes ein Sieg nicht in der Welt, aber wer weiß genau, welches signum wem zum signum aeternitatis zu werden vermag. Außerdem wird man der römischen Kirche in ihrer Gesamtheit, vor allem auch der jüngeren, eine ganz unkritische Verherrlichung Konstantins, etwa nach Art des Eusebius, kaum vorwerfen dürfen.

 

Die Geschichtlichkeit des alten und des neuen Israel

In dem Buch des bereits genannten katholischen Theologen jüdischer Herkunft, des Augustiners Gregory Baum "Die Juden und das Evangelium" wird gesagt: "Die Kirche ist nicht einfach dazu berufen, den Weg des von Gott auserwählten Volkes durch die Geschichte fortzusetzen. Die Zeit des Gottesreiches ist eine eigene, und in diesem Sinn löscht es die ganze Vorbereitungsgeschichte einschließlich der jüdischen Religion der Väter aus. Die Kirche ist die endzeitliche Überwindung des Judentums." Mit diesen Worten, denen wir uns anschließen, denen wir nichts hinzuzufügen und von denen wir nichts abzuziehen haben, ist jeder Versuch, die Kirche Christi abermals zu einer geschichtlichen Größe zu machen oder sie der geschichtlichen Macht einzugliedern, abgewiesen. In meiner Auslegung der Johannes-Apokalypse ("Das Buch mit den sieben Siegeln") habe ich versucht, den Schwur des Engels, "dass Zeit nicht mehr sein wird" auf das Ende der alttestamentlichen Offenbarung zu deuten und nicht etwa auf das Ende der zeitlichen Welt überhaupt: "Die Aussage (des Engels) . . . besagt nämlich, dass die Zeit, die auf das Alte Testament folgt, eigentlich gar nicht mehr als Zeit anzusprechen ist. Die alttestamentliche Offenbarung war zeitliche Offenbarung. Hier offenbarte sich Gott in der Zeit, und hier weissagten die Propheten ein zeitlich-geistliches Ereignis, das Kommen des Messias. Mit der Menschwerdung Christi findet daher diese Prophetie ihr Ende (Luk. 1, 70). Was nun folgt, ist überzeitliche, endzeitliche, eschatologische, eben johanneische Prophetie. Mag auch immerhin die zeitliche Geschichte weiter ihren Fortgang nehmen, sie ist doch nicht mehr Heilsgeschichte, d.h. die Offenbarung Gottes hat mit dieser nachchristlichen Zeit unmittelbar nichts mehr zu tun, und insofern treffen die Worte des Engels, dass künftig keine Zeit mehr sein wird, durchaus zu."

Die Geschichtlichkeit der alttestamentlichen Offenbarung bildet eines ihrer wesentlichen Momente, sie ist das unabdingbare Medium, durch das hindurch wie durch einen Nebel oder durch einen Schleier das Übergeschichtliche scheinen will. Das Neue Testament hingegen offenbart den Auferstandenen, der die Welt mit ihrer Zeit hinter sich gelassen hat. Wenn darum Israel und später die Juden an der geschichtlichen Immanenz hängen bleiben, so verfehlen sie zwar ihren Sinn, aber dieser Irrtum bedeutet nur "Lästerung des Sohnes", eine Sünde, die vergeben werden kann. Wenn aber der Christ in die Geschichte zurückfällt und sich an sie klammert, so lästert er den Geist, nämlich den Pfingstgeist, und diese Sünde wird nicht vergeben (Luk. 12, 10). Gott hat sich, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, dem Abraham, den Israeliten, den Juden mitten in ihrer Geschichte sozusagen aufgenötigt, und sie, die Israeliten und die Juden, haben, im Gegensatz zu ihrem Vater Abraham, immer wieder versucht, dieses Joch von sich abzuschütteln, aus einem von der Ewigkeit gezeichneten, ein politisches Volk wie irgend ein anderes zu werden. Die "christlichen" Völker, allein voran das Volk des Heiligen Römischen Reiches, haben dagegen immer wieder versucht, sich mitsamt ihrer ganzen Weltlichkeit Gott aufzudrängen und ihm ihre Selbsterwähltheit aufzubürden. Dort wurde ein ursprünglich Heiliges - die Gotterwähltheit - säkularisiert, hier ein von Natur aus Säkulares sanktifiziert. Die Juden wehrten und wehren sich dagegen, ihrer Weltlichkeit entnommen zu werden, die säkularisierten, in die Geschichte abgesunkenen Christen wollen umgekehrt ihr Allerheiligstes in die Weltlichkeit herabholen. Das Endergebnis ist freilich in beiden Fällen das gleiche: die Vermengung des Geistlichen mit dem Weltlichen. Dabei behalten aber die Juden - auch gegen ihren Willen - das Stigma ihrer Erwähltheit während die Selbsterwähltheit der falschen Christen sich in Nichts auflöst.

Der Säkularisationsprozess bedeutet einerseits Vergöttlichung des Weltlichen und andererseits Verweltlichung des Göttlichen, des Heiligen, des Geoffenbarten und nur zu Glaubenden, da wie dort aber in Wahrheit fortschreitende Ablösung der Schöpfung samt dem Menschen von ihrem Schöpfer. Eine de facto säkularisierte Welt mag sich unter Umständen immer noch für heilig halten, obwohl sie entheiligt ist, und ein in die Zeit herabgezogener Gott mag immer noch für Gott gehalten werden, obwohl er nur noch ein armseliger Götze oder sogar ein Dämon ist. So hat das Volk Israel, indem es einen König haben wollte, seine eigene national-politische Existenz vergöttlicht und gleichzeitig den ihm geoffenbarten wahren Gott zu einem Volksgötzen degradiert. Ähnlich verhält es sich mit dem spätrömischen Reich, dessen Vergöttlichung des Kaisers die Vermenschlichung des Göttlichen entsprach. In analoger Weise wird durch die Verstaatlichung des Christentums als einer öffentlich anerkannten Religion der römischen Kaiser zu einer Art Papst und versucht sich demgemäss auch auf dem Konzil von Nicäa zu gebärden, und der Bischof von Rom als Papst zu einer Art Kaiser. Sofern der Mensch selbst wie Gott sein will, schafft er sich Götter, die wie der Mensch sein wollen. Die Opfertat Christi besteht ja eben darin, dass Gott sich hier diesem Willen beugt und menschliche Gestalt annimmt, aber dann allerdings in dieser Gestalt nicht triumphiert wie ein Imperator, sondern leidet und am Kreuz stirbt und gerade so eine Integrität als der wahre Gott festhält und offenbart, wobei in Einem die Nichtigkeit aller anderen Gottmenschen und Menschengötter sichtbar wird.

Um die Ursünde, den Sicut-Deus-Willen des gefallenen Menschen zu verwirklichen und die darin befasste Schuld im gleichen Akt zu tilgen und zu sühnen, ist Gott in Jesus von Nazareth sicut homo geworden, wie der Mensch, aber wie der Mensch in seiner tiefsten Elendsgestalt als Schmerzensmann (Pilatus: "Sehet, der Mensch!"). Wer das erkennt und sich zu eben diesem Jesus bekennt als zu seinem Herrn, der allein darf ein Christ genannt werden. Der politische Mensch dagegen sucht seine Gottwerdung oder Wie-Gott-Werdung weiter auf dem alten verdammten Weg der Selbstherrlichkeit und Macht, und so gerät er als Christ, der er vielleicht trotzdem auch ist, notwendig mit sich in Widerspruch; denn politischer Mensch kann er nur sein, sofern er nicht Christ und Christ nur, sofern er nicht politischer Mensch ist. Der politische Christ aber und der christliche Politiker sind contra dictiones in adjecto. Vom Augenblick seiner Vertreibung aus dem Paradies an ist Adam seiner Fleischlichkeit (nicht seiner Leiblichkeit) nach der Verworfene und nur in seinem Auferstehungsleib nach der trotzdem Angenommene, ja Erwählte. Zur Fleischlichkeit des Menschen gehört gerade auch sein politischer Charakter, der immer zusammenfällt mit dem "Willen zur Macht", selbst wenn es sich scheinbar um die Macht des Guten handeln sollte. Die politisch gewordene Christenheit oder Kirche hält sich in ihrer Verworfenheit für erwählt. Das sei allen politisch "engagierten" Christen von heute, den Katholiken wie den Protestanten, eindringlich ins Ohr geflüstert.

"Politisch" und "geschichtlich" sind synonyme Begriffe; denn der Politiker sucht als solcher sein Ziel in der Geschichte, nämlich in der Zukunft und das meint in der Zeit. Wer das aber tut, verschließt damit seine Augen dem Eigentlichen, auf das allein es ankommt, wenigstens in der Offenbarung des Alten wie Neuen Testamentes. Dabei blieb freilich die alttestamentliche Offenbarung eine vorläufige, eine quasi-geschichtliche, während die neutestamentliche eben diese Vorläufigkeit abgestreift hat. Darum gibt es für die Geschichtsverfallenheit der Juden noch eine gewisse Entschuldigung, für die der Christen aber keine. Es wurde ja schon gesagt, dass es hier um die Sünde wider den Geist geht, die ohne Vergebung bleibt, weil sie sich selbst die Möglichkeit der Vergebung abschneidet. Der verstockte Jude verharrt nur in seinem Judentum, wenn auch in einem missverstandenen, der verstockte Christ jedoch fällt nicht etwa nur ins Judentum zurück, sondern ins Heidentum und sogar in ein auch noch seines mythischen Glanzes beraubtes Heidentum.

 

Der Antisemitismus im christlichen Rom

 

In der noch biblischen Zeit der Apostelgeschichte waren die Christen die Verfolgten und niemals die Verfolger. Der Christ lebt auf Erden als "Fremdling und Pilgrim", er hat die "Welt" nicht lieb, was aber nicht heißt, dass er sie hasst oder gar Gewalt gegen sie anwendet, sondern nur dass er sich in geistlicher Weise ihr nicht unterwirft, sich nicht zum Sklaven ihrer Gesetze macht, die ja vor allem auch seine eigenen Gesetze sind, sofern er selbst als zeitliches Wesen ihr angehört. Die Welt nicht lieb haben, bedeutet somit in erster Linie sich selber seiner eigenen Weltlichkeit nach nicht lieb haben und der Selbstsucht absagen. Dafür aber rächt sich die Welt, und ihre Rache muss ertragen und demütig hingenommen werden. Die Feinde des Christen sind sein "Fleisch" und alles, was von dessen Art ist, also auch die Heiden und die abtrünnigen Juden. An ihrer Feindschaft kann der Christ die Wahrheit seines Glaubens erkennen. "Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch verfolgen." (Joh. 15,20). Auf diese Verfolgung antwortet aber der Christ unter gar keinen Umständen mit Wiederverfolgung seines Verfolgers. Im Gegenteil: Er liebt seine Feinde; er segnet, die ihn fluchen; er tut wohl denen, die ihn hassen und er bittet für die ganze Welt, die er zwar als "Welt" nicht lieb hat, dafür aber als verderbte Schöpfung Gottes um so mehr; denn er weiß: "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab." (Joh. 3, 16) Das Nicht-Liebhaben des Gläubigen erweist sich so als die eigentliche und höhere Form der Liebe selbst.

Es ist also völlig undenkbar, dass vom Christentum eine Verfolgung der Juden oder der Heiden ausgehen könnte. Dass es in seiner Welt noch Juden und Heiden, also Verkehrte gibt, diese Tatsache muss der Christ seiner eigenen noch unüberwundenen, noch unbekehrten Verkehrtheit zuschreiben. Nur wer seine faktische Verkehrtheit für Bekehrtheit hält, wer also als Christ den eschatologischen Sinn der Verheißung verfehlt und ihn zurückwendet ins Zeitliche, wer in die politische Dimension abgleitet, wird zum Verfolger der Nicht-Christen. Erst das politisierte Christentum der Zeit Konstantins beginnt antisemitisch und antipaganistisch zu werden, erst jetzt werden Dinge möglich wie die Ermordung der heidnischen Philosophin Hypatia durch christliche Mönche in Alexandrien (415), und erst jetzt im vierten Jahrhundert predigt ein Kirchenvater, der "heilige Chrysostomus: "Wo aber, wenn nicht im Bordell wird das Buhlweib entehrt? Daher ist die Synagoge nicht nur ein Theater, sondern auch ein Bordell; sie ist eine Räuberhöhle und ein Versteck für wilde Tiere . . . aber nicht einfach für Tiere, sondern für unreine Bestien." Und erst jetzt (388) wendet sich der gleichfalls "heilige" Ambrosius, Bischof von Mailand, gegen den oströmischen Kaiser Theodosius, der christliche Synagogenschänder bestrafen wollte, und behauptet, dass die Juden als Feinde Christi keinen Anspruch auf Gerechtigkeit oder gesetzliche Unterstützung hätten. Jeder, der den Juden beim Wiederaufbau der Synagoge behilflich sei, nehme die Waffen gegen Christus selbst auf.

Der Christ steht seinen Feinden, Verfolgern, Peinigern und Mördern immer mit weit geöffneten Armen gegenüber, bereit, sie jederzeit bei sich aufzunehmen; der in irgendeiner Form politisch gewordene Christ aber stößt sie von sich und verdammt sie, er schließt sie von sich aus, genauso wie der seine Erwählung missverstehende Jude. Im politischen Raum verkehrt sich also die christliche Liebe in ihr Gegenteil, in antichristlichen Hass. Sieht man ab von dem latenten Antisemitismus der Heiden im Altertum, etwa der Ägypter oder der Römer, so beginnt der grundsätzliche und gesetzlich geregelte Antisemitismus erst in der christlichen Zeit und in der christlichen Welt, und zwar immer dort, wo das Christentum Staatsreligion wird oder der Staat sich als christliche Institution versteht, bzw. missversteht, wo Glaube und Politik eine verhängnisvolle Ehe schließen, so unter Konstantin, im oströmischen Reich, im merowingisch-fränkischen Gallien oder im westgotischen Spanien. Dagegen bleibt das Papsttum dem Juden gegenüber relativ tolerant. Die Juden mussten so den Eindruck gewinnen, dass die Christen als solche ihre geschworenen Feinde und eigentlichen Verfolger waren und sind, wogegen doch in Wahrheit nur die politisierten und damit entchristlichten Christen, man könnte ohne Übertreibung sagen, die verkehrten rejudaisierten Christen zu Judenhassern geworden sind. Der Antisemitismus des Abendlandes kennzeichnet von der Spätantike bis heute das säkularisierte Christentum. Von jener falschen Meinung lassen sich die meisten Juden selbst nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nicht abbringen. So behauptete erst kürzlich ein bekannter französisch-jüdischer Schriftsteller in allem Ernst mir gegenüber, der Apostel und der Evangelist Johannes, der "Apostel der Liebe" sei der erste Antisemit gewesen. Auch das haben natürlich wir Christen zu verantworten, obwohl es den Juden durchaus nicht entschuldigt; denn den Apostel Johannes für einen Antisemiten halten, kann nur ein Jude, der im Herzen Christenverfolger ist, so wie das Paulus einst als Saulus war.

"Auffallend ist . . ., dass der erste christliche Cäsar, Konstantin der Große, der vor seiner ‚Bekehrung’ den Juden gegenüber Toleranz im Sinne des römischen Rechtes geübt hatte, bald zu einschränkenden Maßnahmen griff, die bald in das neue christliche Staatsbewusstsein übergegangen und auch von der Staatskirche gebilligt worden sind. Diese Erlasse (Erhöhung der Steuern, Verbot von Mischehen und der Beschäftigung von Christen in jüdischen Haushalten und Betrieben, Beschlagnahmung von Synagogen) bedeuteten eine deutliche Deklassierung. Sie ergaben sich aus dem Wesensverständnis des neuen christlichen Staates, der die von ihm konzessionierte Kirche als eine das Ganze Volk umfassende sakramentale Heilsanstalt auch im politisch-rechtlichen Bereich anerkannt hatte." (K. Kupisch, "Das Volk der Geschichte)

Die ursprüngliche Toleranz Konstantins war freilich bloß die Duldsamkeit des spätrömischen synkretistischen Heidentums, das alle Religionen gelten ließ, weil es an keine mehr glaubte, die Duldsamkeit der Pilatusfrage "Was ist die Wahrheit?" Und auch die spätere Entscheidung für das Christentum, die ‚Bekehrung’ also dürfte davon nicht allzu weit entfernt gewesen sein. Dem Kaiser erschien offenbar das Christentum als die für seine politischen Ziele zweckmäßigste unter den zahllosen Religionen des römischen Imperiums.

Zu dem gleichen Phänomen schreibt der ursprüngliche Lutheraner und spätere Katholik Karl Thieme in seinem Buch "Judenfeindschaft": "Die ‚Konstantinische Revolution’ brachte auch hier (nämlich im Verhältnis der Christen zu den Juden) eine schicksalsschwere Wendung. Hatte man bis dahin im wesentlichen mit geistigen Waffen um die freie Entscheidung von Menschen gerungen, für die Christ werden hieß: das Blutzeugnis riskieren, so konnte nun die Staatsgewalt zu Hilfe genommen werden, um auch solche bei der Stange zu halten oder zu gewinnen, deren christlicher Glaube eher oberflächliche Zeitmode war. Unter Konstantin beginnt eine Sondergesetzgebung zunächst mehr defensiver Art; etwa um christliche Sklaven jüdischer Herren oder Konvertiten aus dem Judentum zu schützen." D.h. natürlich vor den Juden und ihren Nachstellungen. Der frühere Kampf mit "geistigen Waffen", von dem Thieme hier spricht - besser sollte es heißen "geistliche Waffen" -, war solange er sich jeder Rabulistik, Sophistik und apologetischen Rhetorik enthielt, gar kein eigentlicher Kampf, sondern einfach schlichte Verkündigung unter dem Gebot Christi: "Und wo euch jemand nicht annehmen wird, noch eure Rede hören, so geht heraus von desselben Hause oder der Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen." (Matth. 10, 14) "Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt." (10, 19) Sobald aber der geistige Kampf wirklich zum Kampf wird - und hier ist dann allerdings "geistig" und nicht mehr "geistlich" zu sagen -, ist er um nichts besser als der andere mit Zwangsmitteln, Gesetzen, Strafen und Schikanen aller Art, wenn auch vielleicht weniger gefährlich und weniger wirksam; denn ob ich meinen Gegner mit Fäusten oder mit Argumenten wehrlos mache, bzw. zu machen versuche, ist im Grunde gleichgültig. Es ändert nichts am Kampf-Prinzip, das da wir dort das menschliche, das Prinzip des "Entweder du oder ich" bleibt und an die göttliche Offenbarungswahrheit nicht heranreicht. Der Christ kann niemals Recht haben wollen, auch nicht, wo es um diese Wahrheit geht. Freilich wollen wir alle, gerade auch wir Theologen, immer wieder Recht haben, sonst gäbe es ja nicht den berühmten Furor Theologorum, aber wenn das so ist und sofern es so ist, müssen wir uns sagen, dass da etwas noch sehr faul ist an unserem Christentum.

 

De Civitate Dei

 

Wenn über die Christen zur Zeit Konstantins und seiner unmittelbaren Nachfolger gesprochen wird, lässt sich nicht vorbeigehen an dem Mann, der das Denken jener Epoche am reinsten und auf höchster Ebene repräsentiert, an dem Theologen und Philosophen Aurelius Augustinus, vor allem an seinem großen geschichtsphilosophischen Werk De Cevitate Dei ("Vom Gottesstaat" oder vielleicht genauer "Von der Bürgerschaft Gottes"). Wie alle wahren Christen erwartet auch er ganz gewiss das Herannahen des Gottesreichen und das Ende der zeitlichen Geschichte für die eben jetzt unmittelbar bevorstehende Zukunft, aber das doch so, dass neben diesem eschatologischen und apokalyptischen Aspekt noch eine relativ positive Bewertung mancher irdischen Möglichkeiten Platz hat. Zwar bekämpft er die platonisierenden Pelagianeer ebenso wie die Donatisten, aber er kämpft hier offenbar nicht so sehr gegen ihm selbst wesensfremde Häresien als vielmehr gegen seine eigene, immer noch fortbestehende Versuchung, d.h. gegen seinen eigenen latenten Platonismus, der einen kontinuierlichen Übergang vom Göttlichen zum empirisch Menschlichen ermöglicht.

So schillert oft die Augustinische Konzeption der Civitas Dei im Gegensatz zur Civitas terrena zwischen dem radikal transzendenten Gottesreich und seiner, wenigstens symbolischen Realisation, wenn auch als bloße Vorläufigkeit innerhalb dieser vergänglichen und vergehenden Welt. Es scheinen da unverkennbar christliche Eschatologie und spätantike religionsphilosophische Ideen ineinander, was ohne Zweifel einem von uns nicht mehr so recht nachvollziehbaren Denken dieser Epoche entspricht. So kann man in der Augustinischen Geschichts- und Staatsphilosophie die Keime sowohl des sich immer mehr säkularisierenden Kirchen- und Reichsbegriffes wie auch einer kompromisslos eschatologischen Deutung der Königsherrschaft Gottes erkennen. "Es ist", wie Harnack einmal sagt, "der Vater der römischen Kirche und der Reformation." Von hier aus führt der Weg einerseits zum herrscherlichen Papsttum und zum Sacrum Imperium des Mittelalters und andererseits doch auch zum ewigen Jerusalem der Johannesapokalypse. Auf beiden Wegen besteht die Möglichkeit wie das formale Recht, sich auf Augustin zu berufen, und man hat ihn ja auch tatsächlich da wie dort für sich in Anspruch genommen. Der Platoniker kennt den allmählichen und stetigen Übergang vom Irdischen zum Himmlischen, worauf die römisch-katholische Theologie das besonders in jüngster Zeit durch Erich Przywara so geläufig gewordene Prinzip des "analogia entis" gründet. Für den reformatorischen Christen dagegen besteht seit der Ursünde, also vom Beginn der Geschichte an zwischen beiden ein unüberbrückbarer, durch den Widerspruch bedingter Abgrund. Demgemäss heißt es bereits im Vorwort zu De Civitate Dei, das der Verfasser an seinem Sohn Marcellinus richtet, er habe es in diesem Werk unternommen, "den glorreichen Gottesstaat, wie er sich im gegenwärtigen Ablauf der Zeiten darstellt, da er ‚aus dem Glauben lebend’ unter Gottlosen in der Fremde pilgert, und auch wie er in der jenseitigen Beständigkeit der ewigen Heimat beruht . . ." aufzuzeigen.

Steht der irdische Staat im unversöhnlichen Gegensatz zum Gottesstaat, ist also das Streben nach Macht, ohne das es ja überhaupt keine Politik, auch keine noch so "geistliche" Kirchenpolitik geben kann, in der letzten Wurzel böse oder vermag die Civitas terrena unter Umständen doch immerhin ein, obgleich nur schwaches Abbild der Civitas Dei zu sein? Das bleibt die Frage, auf die Augustin eigentlich niemals eine durchaus befriedigende Antwort gibt, eben darum, weil das platonische Schema ständig mit hineinspielt in seine christlich-theologischen Erwägungen. Nur darum kann er gelegentlich auch im VIII. Buch des Werkes sagen, dass die platonische Philosophie der christlichen Lehre von allen Philosophien am nächsten steht. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist auch der Satz: "Denn das Böse hat keine Wesenheit, sondern was man böse nennt, ist Verlust des Guten." In Wahrheit ist das Böse das Nein zum Guten und nicht nur dessen Abwesenheit. Ein Böses, das bloß Abwesenheit des Guten wäre, könnte auch keine Werke hervorbringen. Das Böse hat eine negative Wesenheit und Realität, es ist Nein-Tat wie das Gute Ja-Tat, aber freilich begreift das Gute im rein dialektischen Widerspruch zum Bösen auch bereits Böses in sich, und es gibt gewiss sehr viele Stellen bei Augustin, die sich nur in solchem nicht platonischen Sinn verstehen lassen.

Den Weltstaat nenn Augustin ausdrücklich den Staat Kains, des Städtegründers, den Gottesstaat den Staat Abels, des "Hirten", des auf Erden unbeheimateten Fremdlings und Pilgrims. Hier ist theologisch alles in bester Ordnung. "Es steht nun von Kain geschrieben, dass er einen Staat (oder eine Stadt) gründete. Abel dagegen als Fremdling gründete keinen (keine). Denn der Staat der Heiligen ist droben, obwohl er hienieden Bürger erzeugt, in denen er in der Fremde pilgert, bis die Zeit seiner Herrschaft anbricht, da er alle, die in ihren Leibern auferstehen, sammeln wird, und wo ihnen das verheißene Reich verliehen wird, in dem sie mit ihrem Fürsten, dem König der Ewigkeit, ohne Ende herrschen werden." Bedenklich hingegen klingen manche andere Stellen wie z. B.: "Wir entdecken also am Weltstaat zwei Formen: die eine, in der er sein Vorhandensein dartut, die andere, in der er durch sein Vorhandensein zum Vorbild für den himmlischen Staat dient." Im römischen Reich vollendet sich nach Augustin der Weltstaat, und auch die Gründung Roms beginnt mit einem Brudermord: Wie Kain den Abel, so erschlägt Romulus, den Remus, der allerdings auch schon ein Bürger des Weltstaates und nicht wie Abel des Gottesstaates war.

"Wenn wir also sagen, dass die zwei verschiedenen und einander entgegengesetzten Staaten dadurch entstanden, dass die einen nach dem Fleische und die anderen nach dem Geiste leben, könnte man ebenso sagen, weil die einen nach dem Menschen und die anderen nach Gott leben." So bejahenswert das klingt, bleibt doch die Frage offen, ob das Leben nach dem Geist und damit der Gottesstaat doch auch eine vielleicht begrenzte innerweltliche Möglichkeit ist wie das Leben nach dem Fleisch und damit der Weltstaat eine unbegrenzte, oder ob nicht jenes Erste gerade darum den Gottesstaat konstituiert, weil dessen Bürger die Welt mit allen ihren Möglichkeiten, den "guten" und den "bösen", hinter sich gelassen haben und so auch nie auf den Gedanken verfallen werden, hier auf Erden einen Staat oder überhaupt eine sichtbare Gemeinschaft der Gerechten aufzubauen. Ein Leben auf das Ziel irdischer Gerechtigkeit hin ist - soweit überhaupt - auch den Heiden möglich, aber davon ist das Leben auf das Reich Gottes hin toto genere verschieden.

Erscheint die symbolische Darstellung des Gottesreiches in Gestalt eines geschichtlichen irdischen Staates, etwa nach dem Prinzip der analogia entis, denkbar, oder bedeutet die Realisierung des wahren Gottesreiches das unabdingbare Ende aller wie immer gearteten weltlichen politischen Gebilde, mögen sie sich Reich, Staat, Kirche oder sonst wie nennen, bzw. ist jede innergeschichtliche Reichsgründung, auch wenn sie vorgibt christlich zu sein, nicht bereits ein grundsätzliches Nein zum Reich Gottes? Diese Frage lässt sich nach dem Evangelium und dem gesamten NT ganz eindeutig beantworten; denn das dem Gottesreich gemäß Irdische verhält sich zum Himmlischen genauso wie der Jesus im Fleisch zum Auferstandenen. Der Jesus im Fleisch ist der auf alle Macht und Herrlichkeit verzichtende, nie für sich selber daseiende, sondern sein eigenes Selbst opfernde und sich immer schon auf dem Weg nach Golgatha befindende Menschensohn; der zur Rechten des Vaters thronende erhöhte Herr hingegen gehört ganz und gar nur der Civitas Dei an. Ein christlicher Staat müsste somit in jedem Zug jenem dem Kreuzesopfer vorbehaltenen sterblichen Mann Jesu gleichen, aber das wäre dann zweifellos alles andere als das, was wir uns unter einem Staat vorstellen.

Trotzdem darf Augustin mit Recht betonen, dass in allen irdischen Reichen die Civitas Dei und die Civitas terrena beider voneinander erst am Jüngeren Tag erfolgen wird. Es handelt sich hier also um etwas Ähnliches wie in dem bekannten Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Dabei wäre nur zu fragen, ob Augustin auch deutlich genug erkennt, dass das Weizenhafte im irdischen Reich eben das Nicht-Staatliche, das Nicht-Politische an ihm ist, während sich der Staat als solcher unaufhaltsam dem Überwuchern des Unkrautes über den Weizen zu bewegt, so wie jeder einzelne Mensch dem Tod entgegen geht und seine Lebendigkeit nur in der Transparenz für die Auferstehung hat. Jede irdische Gemeinschaft hat ihrer Herkunft nach etwas von der Civitas Dei an sich, ihrer Hinkunft nach aber entgleitet ihr dieses Etwas mehr und mehr, das übrigens nicht einfach gleichgesetzt werden darf der im christlichen Glauben neu gewonnenen Gewissheit der Wiederherstellung des Paradieses am Ende der Tage.

Von den Helden der altrömischen Geschichte sagt Augustin: Sie "gehörten eben dem Weltstaat an. Als Ziel aller für ihn übernommenen Pflichten stand ihnen sein Gedeihen vor Augen und ein Reich, nicht im Himmel, sondern auf Erden; nicht im ewigen Leben, sondern in der Abfolge gehender und kommender sterblicher Geschlechter. Was hätten sie lieben sollen außer Ruhm, durch den sie gleichsam nach dem Tod im Mund ihrer Bewunderer fortleben wollten."

Ebenso muss aber von allen Staaten im natürlichen Sinne ohne Ausnahme und von ihren Heroen bis zum heutigen Tag, auch im "christlichen" Abendland, gesprochen werden. Man denke etwa an den Begriff der Timokratie in der platonischen "Politheia", wo die Hinfälligkeit sogar des Idealstaates bereits erkannt ist. Im Blick auf den politischen Erfolg durch innerweltliche Tugendhaftigkeit, z. B. bei Cato, verweist Augustin auf Matth. 6, 2: "Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin." Das meint, auch dem sittlich besten Streben in der Zeit kann nur ein zeitlicher und sehr vergänglicher, allein darum aber auch schon fragwürdiger Erfolg beschieden sein. "Ganz anders aber ist der Lohn der Heiligen, die hier Schmach erleiden, um der Wahrheit willen, welche den Liebhabern dieser Welt verhasst ist. Ihr Staat ist ewig." Wie der noch so gesunde irdische Mensch seines inneren Selbstwiderspruches, seiner inneren Dialektik zufolge im Lauf der Zeit dennoch unausweichlich einmal erkranken und schließlich, aus welcher Ursache immer, sterben muss, so muss auch die unserem Urteil nach bestmögliche und gerechteste politische Ordnung infolge der a priori inhärierenden Dialektik notwendig einmal zerfallen und untergehen, muss jede politische Tat, die uns im Augenblick, da sie getan wird, als die beste, auch moralisch die beste Lösung des eben aktuellen Konfliktes erscheint, am Ende böse und verderbliche Früchte treiben, in denen das zum Vorschein kommt, was sie als zeitliches Phänomen kennzeichnet. Auch die Götter der Sonne und des Lichtes werden den Tag der Götterdämmerung nicht überleben.

Von der Kirche als einer geschichtlich fassbaren und insofern weltlichen Institution lässt sich nichts günstigeres sagen als von den im strengen Sinn politischen Gebilden. Die Geschichte der "sichtbaren" Kirche ist im besten Fall die des gleichfalls sichtbaren sterblichen Leibes ihre Herrn Jesu Christi, die Geschichte also, die auf Golgatha endet. In der Weltzeit behält der Leib Christi immer sein Knechtgestalt, d.h. bleibt er der leidende Gottesknecht des Jesaja ohne Gestalt und Schöne. Darin unterscheidet sich die Gemeinde des NT durch gar nichts von ihrer alttestamentlichen Vorgängerin, im Gegenteil: sie sinkt noch unter diese herab in die Elendsgestalt, weil sie der Welt noch fremder geworden ist. Die Arche Noahs "ist ohne Zweifel ein Bild des in dieser Welt in der Fremde pilgernden Gottesstaates, der Kirche, die gerettet wird durch das Holz, an dem der Mittler zwischen Gott und den Menschen hing, der Mensch Christus Jesus. Weisen doch auch die Maße der Länge, Höhe und Breite der Arche auf den menschlichen Leib hin, in dessen wirklicher Gestalt der verheißene Mittler zu den Menschen kommen sollte und kam. Der Gottesstaat zieht "in dieser bösen Welt wie in einer Sündflut in der Fremde dahin."

Ist für den reformatorischen Christen Augustin noch immer zu wenig eschatologisch, so ist er das umgekehrt für manchen Katholiken allzu sehr. Man kann zwar mit einigem Recht der Geschichtsphilosophie, die ihr Wissen aus der Betrachtung der objektiven Vergangenheit schöpft, vorwerfen, dass sie unbedenklich Geschichte überhaupt der vergangenen Geschichte gleichsetzt und Gegenwart wie Zukunft völlig unbeachtet lässt, geradeso als ob der Mensch als Geschichtsphilosoph bereits am Ende des ganzen Zeitablaufes und damit außerhalb des Prozesses stünde, aber man wird doch auch nicht um das Eingeständnis herumkommen, dass ein solches zukunftsloses Geschichtsbild seine Berechtigung eben darin findet, dass das Heute vom Gestern nur dann so sehr fasziniert werden kann, wenn es eine eigene unmittelbar erfahrene Lebenskraft mindestens beinahe schon verloren, nämlich an die tote Vergangenheit abgegeben hat. "Das System der Historie ist wirklich die Eule der einbrechenden Dämmerung des Zeitalters, so wie die schöpferische Erkenntnis konkreter Aufgaben an seinem Anfang steht. Dieses schöpferische Zeitbewusstsein als Träger der Geschichtsbewegung hat Augustin verfehlt." Tatsächlich aber gibt es so etwas wie ein schöpferisches Zeitbewusstsein gar nicht; denn das Bewusstsein hat das Bewusstsein immer schon außer sich. Gesichtsbewusstsein ist Symptom der Endzeit. Christliches Geschichtsdenken kann nur Kreuzesdenken und eschatologisches Auferstehungsdenken sein.

 

Sacrum Imperium

 

Reichsidee und Reichsgründung

 

Vor mehr als 35 Jahren habe ich in einem Beitrag für die "Münchner Neuesten Nachrichten", der später in dem Sammelband "Was ist das Reich?" aufgenommen wurde, geschrieben: "Wann immer in der Geschichte des Mittelalters oder der Neuzeit vom Reich gesprochen und gesungen wurde, klang wie Orgelbegleitung, wie der Generalbass zu den menschlichen Stimmen der jeweiligen Gegenwart die Ahnung vom überzeitlichen Reich vom Regnum Christi mit. Mehr oder weniger bewusst hat der Deutsche sein irdisches Reich stets auf jenes andere hin entworfen . . . Die deutsche Reichsidee bleibt mit dem Christentum untrennbar verknüpft und ist ohne dieses gar nicht zu verstehen." Auch heute noch kann ich mich zu den meisten Gedanken dieses Aufsatzes bekennen, wobei freilich betont werden muss, dass ich damals noch das "Reich" für eine dem deutschen Geist entsprungene Idee hielt, währen ich heute, worüber später noch die Rede sein wird, umgekehrt das deutsche Volk für eine Schöpfung des ursprünglich in keiner Weise national oder gar rassisch germanisch gebundenen Reichsgedankens halte, der als solcher der bereits der Säkularisation verfallenen Christenheit des Abendlandes entstammt, und das ändert gewiss alles bis in die kleinsten Einzelheiten hinein.

Zwischen dem noch antiken, zuletzt christianisierten, aber seinem Ursprung und Charakter nach durch und durch heidnischen römischen Imperium der Cäsaren und dem mit Karl dem Großen beginnenden heiligen Reich besteht allerdings ein grundsätzlicher Unterschied. Dort haben wir eine das Christentum als "Staatsreligion" äußerlich übernehmende natürliche politische Macht vor uns, hier eine freilich nur scheinbar aus dem christlichen Geist selbst geborene halb irdisch und halb überirdisch sich verstehende Staatsgewalt. Auch dieses "Reich" ist also sicher kein urhaft christliches Gebilde, es kommt vielmehr eher aus einem platonisierenden und insofern gleichfalls heidnischen Denkansatz. Für das Reich schlechthin hielten sich lange vor den fränkischen Königen auch schon Ägypten, China, Rom usw., nämlich für die irdische Verkörperung des der Zeit nicht unterworfenen göttlichen oder himmlischen Reiches. Die Reichsidee kann überhaupt nur dort auftauchen, wo das Wissen um den Sündenfall, um die Verkehrtheit des Weltlichen entweder noch gar nicht aufkommen oder bereits wieder vergessen ist. Dieses Zweite gilt eben vom "christlichen", also vom "Heiligen Römischen Reich" unserer Geschichte. Hier erscheint das eschatologische Gottesreich der neutestamentlichen Verkündigung und Verheißung rückgebildet in das platonische Schema vom idealen Staat.

Vor allem ist die evangelische Taufgnade verkannt und missverstanden. Während Paulus ausdrücklich sagt (Röm. 6, 3): "Wisset ihr nicht, dass alle, die wir in Jesum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft?" Und weiter (6, 5): "So wir aber samt ihm gepflanzt werden zu gleichem Tod, so werden wir auch seiner Auferstehung gleich sein", während also hier das Sakrament für den irdischen und geschichtlichen Menschen den Tod bedeutet, und der Getaufte lediglich für die Auferstehung, d.h. für das Leben im ewigen Jerusalem wiedergeboren wird, bezieht die eigentümliche Theologie des Reiches die Wiedergeburt schon auf dieses Leben, so dass der aus lauter getauften christlichen Einzelindividuen zusammengesetzte Staat ein Reich von Wiedergeborenen und so mindestens ein recht adäquates Abbild des transzendenten Gottesreiches darstellt, wie das vielleicht am klarsten Gerhard von York ausgedrückt hat: Das Reich ist figura coelestis regni et libertas eorum (nämlich der christliche Reichsbürger) figura futurae libertatis, quae summum bonum civitatis die nostrie (nach Dempf, Sacrum Imperium).

Der Staat, die politische und nationale Gemeinschaft der Menschen ist, das wurde schon einmal angedeutet, zweideutig wie alle empirisch-irdischen Phänomene: gut seiner Herkunft, böse seiner Hinkunft nach. Jede Reichsideologie ignoriert diese Zweideutigkeit, sie meint aus dem Staat den nur guten oder doch annäherungsweise vollkommenen und das heißt eben das "Reich" formen zu können. Vom Heidentum, das, wie alles, so auch die politische Realität als Abbild eines idealen Urbildes begreift, also platonisch, ist nichts anderes zu erwarten. Das Christentum aber müsste im Staat seiner negativen Seite nach nicht das Abbild, sondern das Gegenbild und Zerrbild des Urbildes erkennen, weshalb die Civitas terrena a priori keine Möglichkeit hat, die Civitas Dei gleichnishaft darzustellen. Alle politische Macht ist einerseits exouisa von Gott im Sinne von Röm. 13, 1, andererseits aber auch Reich des Antichrist, des Tieres aus dem Abgrund im Sinne von Off. 13.

Seinem Wesen nach erstreckt sich das Reich über die ganze Erdoberfläche, es hat keine Grenzen, und das zwar in jeder Beziehung, vor allem natürlich in geographischer und nationaler, es ist genau so wie die Kirche katholisch. Dadurch unterscheidet es sich bereits prinzipiell vom bloßen Staat. Es ist geöffnet für alle Ausstrahlungen und alle Einstrahlungen. Es steht in unmittelbarer Berührung mit allen seinen vorläufigen Nachbarn, die damit mehr als bloße Nachbarn sind; denn es ist ja auch ihr Reich, eben das Reich, es ist nicht und niemals imperialistisch, sondern imperial, es bedroht niemanden, es erobert niemanden, es vergewaltigt niemanden, es bereichert und beschenkt vielmehr alle und macht sie so zu Reichsbürgern. Es ist das, wenn unter Umständen auch exzentrische Zentrum der ihm noch nicht eingegliederten oder vielleicht wieder ausgegliederten Staaten, z. B. Englands, Frankreichs oder Italiens. Auch in religiöser Beziehung lässt es sich nicht abgrenzen. Selbst nach der Reformation, nach der sogenannten Glaubensspaltung bleibt es in ewigen Kämpfen und Wehen katholisch und protestantisch zugleich, und nur indem es beides ist, ist es das Reich.

Die Reichsgründung gleicht in gewissem Sinn dem Tempelbau der ersten israelitischen Könige. Da wir dort will man "dem Herrn ein Haus bauen", entscheidet man sich für Kain und Abel, den Hirten. Der Erbauer des Reiches ist der Haus-Bauer im Gegensatz zum Zeltenden. "Wohin gehen wir? Immer nachhause." Dieses bekannte Wort des Novalis fällt auf durch seine Zweideutigkeit. Meint es das zeitlich-geschichtliche oder das ewige eschatologische "Haus"? Es schwebt in der eigentümlichen Form des Mythischen zwischen beiden. Ähnliches wäre zu sagen von dem Gedicht "Es liegt eine Krone im tiefen Rhein". Meint die romantisch-mythische "Krönung" zu Aachen ein geschichtliches oder ein endgeschichtliches Ereignis? Der Rhein hat seine besondere Bedeutung als der eigentliche Schicksalsfluss des Reiches: erstens als die verbindende Mitte und zweitens als die trennende Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden Reichshälften, von denen Frankreich das romanische, Deutschland das germanische Element, jenes mehr die Vergangenheits-, dieses mehr die Zukunftsträchtigkeit verkörpert. Das Reich aber will gegenwartsträchtig sein, und darum bleibt der Rhein seine Achse. Das Germanische als solches ist keineswegs allein für das Reich konstitutiv. Dieser Irrtum muss ausgeräumt werden. Es bildet nur eines seiner Momente, und sobald sich der Schwerpunkt nach dieser Seite hin verlagert, ist die Gegenwart schon an die Zukunft verloren, aber dazu musste es innerhalb der Geschichte, die ja keinen Platz hat für die Gegenwart und in der darum das Reich nur eine Illusion sein kann, unausweichlich kommen.

Wenn Karl der Große vor seinem Zug nach Rom sagte, er werde in Italien nicht latine, sondern tiudisce (was in seinem Mund natürlich heißt: Fränkisch) reden, so meint er damit, dass der Kaiser des heiligen Reiches sich der Sprache des Volkes und nicht der Gelehrten bedienen wolle; denn die Volkssprache ist die der lebendigen Gegenwart; während die Gelehrten der Vergangenheit zugewandt auch deren Sprache reden. Aber freilich setzt er damit auch schon die Gegenwart in Gegensatz zur Vergangenheit, womit sie aufhört Gegenwart zu sein und Zukunft wird. Andererseits steht dazu in Widerspruch, dass dieser Kaiser sich überhaupt "Kaiser", d.h. Cäsar nennt und so gerade das Alte und Abgestorbene in seiner abgestorbenen literarischen Form übernimmt. Er gerät auf solche Weise unvermeidlich in die verhängnisvolle, die Gegenwart zerreibende Dialektik von Gestern und Morgen. Der innere Widerspruch des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation macht sich hier, obgleich dieser Ausdruck zur Zeit Karls noch längst nicht in Gebrauch war, bereits bemerkbar.

"Karl selber betrachtete sich als rex et sacerdos, als König und Priester . . . Es war deshalb mehr als eine private Huldigung, wenn sein theologischer Freundeskreis an seinem Hof ihn als ‚König David’ bezeichnete . . . Nach dem Studium von Augustins "Gottesstaat", dessen Gedanken er ganz nach seinem Sinn interpretierte, sah er sich und seine Regierung in die göttliche Heilsgeschichte eingeordnet und war der festen Überzeugung, dass Gott ihn und das fränkische Volk zu einer besonderen Mission berufen (oder auserwählt!) habe . . . Als Papst Leo III. 795 sein Pontifikat antrat, hat ihm Karl . . . seine Auffassung über das Verhältnis von fränkischem Königtum und Papsttum dargelegt, indem er schrieb: ‚Unsere (des Königs) Aufgabe ist es, die heilige Kirche Christi überall von dem Ansturm der Heiden und vor der Verwüstung der Ungläubigen draußen mit den Waffen zu verteidigen und drinnen durch die Anerkennung des katholischen Glaubens zu befestigen . . . " (Karl Kupisch, Das heilige Reich) Noch im 15. Jahrhundert zur Zeit des Konzils von Konstanz sagt ein maßgebender italienischer Kardinal, Franziskus de Zabarellis, "Der Kaiser repräsentiert das ganze christliche Volk, cum in eum translata sit jurisdictio et potestas unversi orbis."

Dass der Kaiser zuerst fränkischer, sodann gleichzeitig deutscher König und schließlich deutscher Kaiser (Imperator et Rex) ist, ergibt sich daraus nicht aus dem Wesen des Kaisertums, im Gehgegenteil: diese Verschmelzung der Kaiser- mit seiner Königswürde bedeutet eher einen Schönheitsfehler von Anfang an. Während nämlich der König seiner Natur nach der Regent eines rein politischen Gebildes, eines Volkes, eines Landes oder eines Staates ist, das sich in der Geschichte entwickelt, verändert und verzehrt, repräsentiert der Kaiser eine überzeitliche Macht, deren Herrschaftsgebiet, das gleichfalls überzeitliche Reich, eine sozusagen statische Größe bildet. Der altrömische Cäsar verkörpert die aus dem Himmel auf die Erde herabgeholte und hier "Fleisch" gewordene ewige platonische Idee der Politeia. Er ist die immanent gewordene Transzendenz. Und auch in der abendländischen Welt des Mittelalters wird der Kaiser nur möglich, indem sich die christlichen Vorstellungen mit antikem Gedankengut vermengen, ja indem sie diesem Gedankengut hörig werden. Das Israel des A. T. kennt kein Kaisertum, weil hier die heidnisch-platonischen Voraussetzungen fehlen, sondern nur entweder die Theokratie oder das national-politisch verstandene Königtum. Einen König haben wie die anderen Völker auch.

Das Reich Israel sollte ebenso wie das mitwandernde Zelt der Schatten eines im Himmel gezeugten Heiligtums sein, der "Hütte", die Gott selbst den Moses auf dem Berg Sinai sehen ließ (Ex. 25, 40 u. Hebr. 8,5). Das "heilige Römische Reich" dagegen ist eine natürliche irdische Geburt, eine menschliche Hütte, die danach trachtet, sich himmlisch zu verklären. Während Israel als ursprüngliche Theokratie zum weltlichen, wenn auch "gesalbten" und insofern auf den Messias, den "Sohn Davids" vorausweisendem Königtum absinkt, entsteht das "Reich" umgekehrt aus einem bereits vorhandenen weltlichen Königtum, dem fränkischen, das erst nachträglich die Salbung empfängt. Hier erfährt der König oder Kaiser in der menschlichen Vorstellung eine Erhöhung in Richtung auf das Eschatologisch-Transzendente. Was da abfällt ist demnach also nicht wie dort das Reich als solches, sondern das seinem Wesen nach eschatologische Christentum, das sich von der Welt einfangen lässt. Im Reich Israel zuerst das Volk, die erwählte Nachkommenschaft Abrahams, Isaaks und Jakobs da und dann, viel später erst, ein König; im Reich des Mittelalters steht am Anfang der König (der Franken) als Kaiser, der sich sein Volk schafft. "Jedes Reich verstellt der wirklichen Welt den Weg, weil es als Reich die Gotteswelt selbst sein wollte. Kaiser setzen ihr Reich in die Mitte; es ist aber wirklich bloß Teil des Planeten Erde . . . (Rosenstock-Huessy, ‚Die europäische Revolution). Weil es tatsächlich irdisch, eben ein Teil des Planeten Erde, ist, verstellt das Reich aber auch umgekehrt dem Kommen des wahren Gottesreiches, dem Anbruch des ewigen Heute den Weg. Das Reich Israel will aus einer Theokratie eine Timokratie (Platon), das abendländische Reich aus einer fränkisch-germanischen Timokratie eine Theokratie werden, wobei aber der Kaiser seine Macht nicht zugunsten des Theos verlieren will.

Zwar soll das Reich gewiss kein chiliattisches Reich mit dem Ziel zeitlicher Erfüllung sein wie es der jüdische Messianismus oder auch der moderne Kommunismus der Menschheit verspricht, sondern Hinordnung auf ein ewiges Jenseits (Haniel-Niethammer), auf das neue Jerusalem, aber immer sich in der Geschichte der vom Tod gezeichneten Welt darzustellen versucht, gerät unvermeidlich auch in deren natürlichen Sog, der eben ein chiliattischer Sog ist und bleibt. Das gilt vom Reich ebenso wie von der in ihrer Sichtbarkeit prunkenden Kirche. Das Reich will kein zeitlich ausgerichtetes Herrschaftsgebilde sein und muss das gegen seinen eigentlichen Willen dennoch werden, und so ist mit ihm auch schon sein innerer Bruch geboren. Die Idee des Reiches ist ab obo mit sich selber uneins.

Die Säkularität des Königtums erfährt ihre besondere Verschärfung durch das dynastische Prinzip der leiblichen Erbfolge. Das war ja schon im alten Israel so. Die beiden ersten Könige, Saul und David, wurden ohne Rücksicht auf ihre Abstammung unmittelbar von Samuel gesalbt, Salomon aber war bereits der Sohn Davids, und nach ihm zerfiel das Reich. Was Gott von der natürlichen Erbfolge hält, das zeigte er schon, indem er Abel dem Kain, den Isaak dem Ismael, den Jakob dem Esau und den Ephraim dem Manasse vorzog, also immer den Jüngeren dem Älteren. Die natürliche Erbfolge ist den katoikountes, den auf Erden Behausten, den Kainisten zugeordnet und nicht den Erwählten Gottes. Diese haben weder Väter noch Söhne; denn sie stehen nicht in der zeitlichen Geschichte, sie sind vielmehr wie Melchisedek, der König von Salem nach den Worten des Hebräerbriefs. Das dynastische Prinzip gehört zum Königtum, verträgt sich aber keinesfalls mit der Kaiserwürde. Sogar der heidnische römische Kaiser war nicht der leibliche, sondern der Adoptivsohn seines Vorgängers. Er war, wie Bachofen diese eigentümliche Tatsache deutet, ein Abkömmling zwar eines Mannes, aber nicht auch einer Frau und, das heißt zwar ein geistiger, aber kein stofflicher Erbe, also nicht abhängig vom zeitlichen Generationsprozess. Der eigentliche Gott dieser Vater- und Sohnschaft war der keusche Apollo, nicht etwa Dionysos oder gar die Göttin Aphrodite.

Für den "christlichen" Kaiser des abendländischen Reiches bleibt freilich auch diese zweite, geistige Form der Erbfolge unannehmbar; denn sein Gott ist ja nicht der immerhin auch noch auf dem Olymp oder dem Parnass thronende Phöbus, sondern der Schöpfer und Herr Himmels und der Erde. Der Kaiser kann seinem Prinzip nach nur ein Priesterkönig nach der Ordnung Melchisedeks sein. Wenn viele geistliche Würdenträger des Mittelalters von Anfang an gegen die Einführung des kaiserlichen Erbrechtes ihre Stimme erhoben, so sicher nicht nur deshalb, weil sie die kirchliche Oberhoheit über die weltliche Macht zu verlieren fürchteten. Vielmehr erkannten mindestens einige von ihnen, dass es sich dabei um einen Rückfall in eine Art von Kult des Blutes, also in die irdische Geschichte der Geschlechterfolge handelte, aus der den Christen sein Glaube und seine Hoffnung ja gerade herausnehmen sollten. "Die Kirche kennt nur Individuen und individuelle Amtspersonen in der Kirche. Ist der Kaiser ein in die Kirche einzubauendes Amt, dann gibt es kein Erbrecht. Dann ist Deutschland ein Wahlreich, aber eben nur dann, wenn das Kaiseramt nach dem Muster der Papstwahl oder einer Bischofseinsetzung vergeben werden soll. Die Revolution des Papstes hat das germanische Stammrecht des Königshauses zerstört und die kanonische Auffassung des Kaisertums als eines individuellen Amtes an diese Stelle gesetzt." (Rosenstock-Huessy). Wichtig für uns ist hier nur, dass Kaisertum und Königtum einander wechselseitig ausschließen. Das Wort König kommt von kunni (Geschlecht), also gehören Königtum und Erbfolge unlöslich zusammen, wogegen dies dem Kaisertum wiederspricht. Ein König kann als solcher nicht auch Kaiser sein. Insofern ist die päpstliche Polemik wohl begründet. Aber einen irdischen Kaiser, der nichts mehr mit der Geschichte zu tun hat, gibt es eben nicht. Das Kaisertum ist dazu verurteilt, entweder zum Königtum oder zur diktatorischen Tyrannenherrschaft zu entarten; denn es ist an sich der wirklichen Welt artfremd wie die wirkliche Welt ihm. Das Weltkaisertum vollendet sich in seiner eigenen Konsequenz im Tyrannen, im Antichrist. Das hat Oswald Spengler, sowie schon vor ihm viel tiefer Wladimir Solowjew richtig erkannt.

 

Das Volk des Reiches

 

Das Reich des Abendlandes war nicht etwa die Schöpfung eines biologisch bestimmbaren Volkes und seiner besonderen Genialität, auch nicht einer Gruppe von Völkern, der Germanen oder gar der "Deutschen", die es damals noch gar nicht gab, sondern es schuf sich gerade umgekehrt aus seiner eigenen, eben der Reichs-Ideologie heraus auch sein Volk, das später das deutsche genannt wurde, die natio germanica. So ist also das deutsche Volk das Volk des Kaisers und nicht der Kaiser der Kaiser des deutschen Volkes, so wie z. B. der englische König der König der Engländer und der König von England ist; denn das heilige Reich hat weder nationale noch geographische Grenzen. Karl der Große war, wie gesagt, ein glühender Verehrer und Bewunderer Augustins und vor allem seiner Civitas Dei, aber er übersetzte den Gottesstaat unbedenklich wieder zurück aus der Transzendenz in die Immanenz, in die Geschichtlichkeit und war der Meinung, ein heiliges Reich auf Erden errichten zu können. So wurden die von seinen Nachfolgern, den deutschen Kaisern und Königen regierten Völker und Volkssplitter zu einer einzigen, nämlich zur christlichen Nation schlechthin zusammengefasst, die sich als solche dann auch die deutsche Nation nannte. Das deutsche Volk entsteht als das christliche Reichsvolk.

Das Wort "deutsch" entstammt dem althochdeutschen ‚diutisc’ und bedeutet ursprünglich einfach "Volk". Wörter aus dem gleichen Stamm finden sich auch in anderen Sprachen, nicht nur in germanischen, und bedeuten dort ebenfalls "Volk" oder "Land". Der Deutsche in diesem Sinn ist demnach der dem Volk Zugehörige oder der das Land als Eingeborener Bewohnende. Dass Karl der Große sowie seine Zeit das zunächst fränkische Reich nicht als ein nationales verstanden haben, ergibt sich allein schon daraus, dass er bestrebt war und davon träumte, auch das oströmische Reich mit der Hauptstadt Byzanz seiner Krone zu unterstellen. "Der Reichsgedanke ist die große christlich-germanische Schöpfung, durch die das deutsche Volk als solches erst geworden ist. Vorher gab es germanische Stämme, aber kein deutsches Volk. Das Reich ist daher die Idee der Deutschen schlechthin. Ohne die Deutschen wäre nie ein Reich gewesen und ohne das Reich würde es keine Deutschen geben. Das deutsche Volk ist aus der Idee des Reiches geboren." (Haniel-Niethammer, ‚Das Reich des Abendlandes’). Mir gefällt durchaus nicht alles, was der Verfasser hier und an anderer Stelle seines Buches aus dem Jahre 1932 schreibt, vor allem nicht die Eingrenzung Deutschlands auf "germanische Stämme", aber den letzten Satz: "Das deutsche Volk ist aus der Idee des Reiches geboren" möchte ich zehnfach unterstreichen. Es sind nicht nur Germanen gewesen, die sich zum deutschen Volk zusammengeschlossen haben, und es sind auch nicht nur germanische Köpfe gewesen, aus denen zuerst die Idee des Reiches entsprungen ist. Wer weiß, wie viele keltisch-irische Mönche dazu ihren Beitrag geleistet haben, und sie gehören gleichfalls, ja vor allem zu den "Deutschen". "Ein wesentliches Stück des Glaubens der Deutschen an ihre geschichtliche Bestimmung (hat) über ein Jahrtausend lang darin bestanden: das wehrhafte Priestervolk, man möchte wohl sagen, der mit dem Schwert und der Binde gegürtete Levitenstamm des Heiligen . . . Reiches zu sein; die erste Dienerschaft am irdischen Gleichnis des himmlischen Reiches Christi."

Es gehört geradezu zu den allerwichtigsten Merkmalen der Deutschen, national unbestimmt und unbestimmbar zu sein. "Die Natio-Germanica auf diesem Konzil (von Konstanz) umfasste alle Festländer östliche des Rheins. Sie rühmte sich, acht Königreiche (Polen, Ungarn, Schweden, Dalmatien, Böhmen usw.) zu umfassen." (Rosenstock-Huessy, Die europäische Revolution). Bezeichnend für die grundsätzlich Übernationalität des deutschen Volkes ist die Tatsache, dass noch Kaiserin Maria Theresia in ihren Briefen von den Österreichern wie von den übrigen Angehörigen jener Staaten, die zusammen die "Reichsarmee" stellten, ganz selbstverständlich als von den Deutschen im Gegensatz zu den Preußen Friedrichs des Großen redet. Für sie ist also der siebenjährige Krieg ein Krieg zwischen den Deutschen und den Preußen; denn ein Deutscher sein bedeutet nach ihrer Vorstellung ein katholischer Untertan des Kaisers sein. "Die deutsche Seele ist" nach Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse) "vor allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft . . . Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewischt des vor-arischen Elementes, als ‚Volk der Mitte’ in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind: - sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es ist kennzeichnend für die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ‚Was ist deutsch?’ niemals ausstirbt." Weiter in dem gleichen Werk schon fast ins Groteske verzerrt: "Zuletzt: man soll seinem Namen Ehre machen, man heißt nicht umsonst das ‚tiusche’ Volk, das Täusche-Volk. - "Nun sind aber tatsächlich die anderen Völker Europas, gerade auch die Franzosen, dann die Engländer, die Spanier usw. sicher nicht weniger "gemischt" als die Deutschen, aber sie sind trotzdem zu sehr einheitlichen Nationen zusammengeschmolzen. An der Mischung allein kann es also nicht liegen. Maßgebend ist vielmehr ein ganz anderes Moment für die Undefinierbarkeit und die Widersprüchlichkeit des Reichsvolkes, ein Moment, das den Ausgleich der bloß nationalen Verschiedenheiten verhindert, nämlich seine vorgefasste "Christlichkeit". Das Christentum, das im Reich sich darstellen wollte, umfasst nach dem bekannten Pauluswort "Juden und Griechen", aber das im negativen Sinn: hier sind weder Juden noch Griechen. Die Aufhebung der nationalen Gegensätze vollzieht sich nicht im politischen, sondern im eschatologischen Raum. Versteht sich aber dieses Christentum trotzdem als politische Größe wie eben im "Reich", dann werden die Gegensätze nicht oder nur ganz äußerlich überwunden und schwelen sozusagen unter der Oberfläche weiter, wo sie die schwersten Störungen, ja sogar gewisse geistige Krankheiten, nationale Neurosen und Psychosen, verursachen, die zu unvorhersehbaren, dem "normalen" Menschen kaum verständlichen Explosionen führen können.

Die Deutschen als Reichsvolk wollen ohne es zu sollen das "Volk der Mitte", das Menschheitsvolk sein wie das die Israeliten und Juden im AT sein sollten ohne es zu wollen. Geschichten wie etwa die von Ruth oder von Rahab werde in der Bibel erzählt, um zu zeigen, dass es im Gottesvolk auf die einheitliche Abstammung, vor allem die einheitliche Abstammung, vor allem die einheitliche Abstammung des Messias, der Blüte Israels, keineswegs ankommt. Das Menschheitsvolk muss sich von überall her speisen und bereichern lassen, wenn es die ganze Menschheit zu Gott hinführen soll. Hier handelt es sich freilich um einen Akt der Vorsehung, der Heilsgeschichte. Die nachchristliche Zeit aber ist nicht mehr heilsgeschichtliche Zeit, und so wird jeder Versuch, noch einmal ein Israel zu rekonstruieren, zur Fehlleistung. Der katholische Geschichtsphilosoph Alois Dempf allerdings meint: Das Neueintreten des Christentums in die Geschichte führt zur germanischen Christenheit. Diese abendländische Christianitas ist aber keineswegs eine Verweltlichung an sich. Sie ist die notwendige konkrete Form des Christentums in der Zeit, die zur sichtbaren Kirche Christi gehört . . . Wie damals, wird auch heute die volkspersönliche Einheitlichkeit des Reichsethos übersehen über den allzu konkreten Parteistellungen der Kompetenzabgrenzung zwischen sacerdotium und regnum, die eine Unitas ecclesiae über den beiden, das eine Corpus christianum mit seinen beiden Ständen: Klerikern und Laien." Dass ein solches Ineinander von Geistlichkeit und Weltlichkeit mit dem Eintreten des Christentums in die zeitliche Geschichte unvermeidlich wurde. Lässt sich gewiss nicht bestreiten, aber eben dieses an sich durchaus nicht notwendige Eintreten in die Zeit war ja bereits der Fall und der Rückfall in das Alte Testament, in das vorchristliche Judentum. Demgemäss wurde auch, um nur ein Beispiel anzuführen, von der Kirche gegen den Massenmord Karls des Großen an den Sachsen kein Einwand erhoben; denn als Heiden waren die Sachsen damals hostes und nicht inimici, d.h. äußere und nicht innere Feinde. Sie verhielten sich zu den christlichen Franken des Kaisers etwas so wie Edom oder Amalek sich zu Israel verhielt.

Der Versuch oder das Unternehmen, die Christenheit in einem einzigen Reich unter einem einzigen Kaiser zu vereinigen ist nichts weiter als ein neuer babylonischer Turmbau nach der bereits vorhandenen Sprachenverwirrung, die auf den alten folgte. Allerdings wurde, was ja die Kirche auch lehrt, diese alte Sprachenverwirrung durch die Herkunft des Heiligen Geistes in Gestalt feuriger Zungen am Pfingsttag aufgehoben, aber, und darauf kommt es an, im Geist und nicht im Fleisch, als transzendente Verheißung und nicht als platte politische Realität. Wird sie, nämlich die Aufhebung der Sprachenverwirrung, so verstanden, dann führt sie nur zu einem abermaligen und noch verhängnisvolleren Zerfall der Christenheit erstens in feindliche Staaten und zweitens in feindliche Konfessionen. Die einzelnen christlichen Nationen trennen sich voneinander wie zuletzt wohl am eindrucksvollsten in der Endkatastrophe des letzten übernationalen Reiches als Relikt der Schöpfung Karls des Großen noch geblieben war, der österreichisch-ungarischen Monarchie nach dem ersten Weltkrieg. Mit Österreich bricht der zweite, der christliche Turm von Babel endgültig zusammen.

Man wird hier aber auch schon an die anderen Reiche und Staaten des Abendlandes zu denken haben, die sich sehr bald vom heiligen Reich geschieden oder ihm überhaupt niemals angehört haben, vor allem an Frankreich und an England. Auch sie können sich insofern "christlich" nennen, als ihre Herrscher und Untertanen das Christentum als "Religion", sogar als allein gesetzliche "Staatsreligion" übernommen haben, aber sie wollten und wollen nicht existieren aus der Substanz der Civitas Dei. Ihrer Staatlichkeit nach sind sie rein weltlich und, das heißt heidnisch geblieben oder wieder geworden. Ihre politische Gestalt ist geprägt im Rückblick auf das antike Rom, sie sind in der Seele lateinisch. Hier tritt auch die christliche Religion immer mehr in den Dienst der Politea und also der Welt. Das Christentum wird pragmatisch, am deutlichsten zuletzt in der "Neuen Welt", in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Wenn dort die Sitzungen des Parlaments mit Gebet eröffnet werden, so bedeutet das längst nicht die Unterordnung des Politischen unter den göttlichen Willen, sondern umgekehrt die Einordnung des Glaubens in den politischen Zweckmechanismus. Was da angebetet wird, ist der Staatsgötze, der Divus Caesar unter der Maske des geoffenbarten Gottes. So sind also auch die Völker außerhalb des Reiches von ihrem Christentum abgefallen, aber das doch nur in der Weise, in der sich von Alters her alle Heiden ihre Volksgötter gemacht haben. Das Reichsvolk dagegen hat sich aus dem Gott des Neuen Testamentes selbst seinen Abgott gemacht, ähnlich wie die Israeliten, als sie unter Aaron in der Wüste das goldene Kalb gossen. Das Scheitern des Reiches begann mit seiner Teilung nach dem Tod Karls des Großen und endet mit dem eben erwähnten Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Im ersten Weltkrieg standen auf der einen Seite noch zusammen das alte und das neue Reich, Österreich und Preußen-Deutschland, auf der anderen die seit langem reichsfremd und reichsfeindlich gewordenen Nationen Europas. Diese Nationen fallen gemeinsam über das Reichsvolk her, so wie einst Assyrer, Babylonier, Mazedonier und Römer über Israel und Judäa hergefallen sind. Die aus dem alten Reich bereits früher ausgeschiedenen Völker werden nach den beiden Weltkriegen erst recht zu Nationen und ebenso die aus der Donaumonarchie gesonderten wie Ungarn, Tschechen, Kroaten usw. Nur die Deutschen sind bis heute noch keine eigentliche Nation geworden, eben weil ihr Ursprung nicht im nationalen Prinzip wurzelt, sondern im säkularisierten Christentum.

Man solle nun meinen, der Mensch könne nur entweder mit aller Leidenschaft die Civitas terrena wollen und die Civitas Dei als leeres Hirngespinst und als Torheit verwerfen oder umgekehrt die Civitas Dei suchen von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und damit der Civitas terrena, nämlich der Welt überhaupt den Abschied geben. Ein Drittes, so scheint es, gibt es nicht, und beides zugleich bleibt ausgeschlossen. So einfach aber liegen die Dingen nun doch nicht, dass es auf ein ganz klares Entweder-Oder herauskäme, und zwar deshalb nicht, weil ja die "Welt" so wie alles Weltliche durchaus zweideutig bleibt, zweideutig, das meint hier gemischt aus Gut und Böse, aus Weizen und Unkraut. Unser Leben ist gewiss ein sterbliches und vom ersten Augenblick an sterbendes Leben, aber eben trotzdem Leben und als Leben gut, und dasselbe gilt von allem Irdisch-Wirklichen, also auch vom Politisch-Wirklichen, vom Staat. Nichts, was besteht, ist als Bestehendes auch schon wert, dass es zugrunde geht. So denkt nur der Teufel allein. Der Mensch in seiner Unmittelbarkeit kennt sehr wohl das Gute im Wirklichen und gerät darum leicht in Versuchung, dieses Gute dem absoluten Guten gleichzusetzen, es gleichsam herauszudestillieren aus der Gesamtwirklichkeit, um es zu verewigen oder um es zu seiner Vollkommenheit, eben zum absolut Guten zu steigern. Das aber geht nicht, weil das empirische Leben, die empirische Wirklichkeit keine statische Größe ist, sondern sterbendes Leben, sich fortschreitend entwirklichende Wirklichkeit, und so behalten am Ende doch jene recht, die sich, vor das Entweder-Oder gestellt, dafür entscheiden, der Welt und mit ihr der Civitas terrena zu entsagen

Die Gründe des Reiches entschieden sich natürlich noch nicht in dieser Weise; denn sonst hätten sie das Reich nicht gegründet, sonst wäre auch kein Reichsvolk, kein deutsches Volk entstanden. Das deutsche Volk übernimmt für sein Reich zwei notwendig in Konflikt geratende Aufgaben: die Aufgabe zu leben und die Aufgabe zu sterben. Anders ausgedrückt: es übernimmt erstens die Idee des Imperiums vom antiken Imperium Romanun und zweitens den Auftrag, Gottes Volk zu werden im Reich Gottes, in der Civitas Dei. Die darin beschlossene Zwiespältigkeit bleibt unauflöslich. Es ist ein ungeheueres Paradoxon, dass von allen sogenannten "christlichen "Völkern die Deutschen dem reinen Christentum einerseits am nächsten und andererseits am fernsten stehen, dass nirgendwo sonst ebenso wie in Deutschland mit der äußersten Leidenschaft und zu keinem Kompromiss bereit um die letzte und innerste Wahrheit der evangelischen Verkündigung gerungen wurde und trotzdem gerade auch hier der antichristliche Nihilismus seine giftigsten Blüten trieb und treibt. Das liegt nur daran, dass sich schon im Begriff des heiligen Reiches auf Erden samt seinem besonderen Reichsvolk sowohl die höchstmögliche Annäherung an das Himmelreich wie auch die tiefste Entfremdung von ihm verbirgt. Man kann nicht das heilige Reich auf Erden samt seinem besonderen Reichvolk sowohl die höchstmögliche Annäherung an das Himmelreich wie auch die tiefste Entfremdung von ihm verbirgt. Man kann nicht das heilige Reich wollen, ohne sich nach der Civitas Dei zu sehnen und doch auch wieder nicht, ohne den eschatologischen Charakter dieser Civitas gänzlich zu verkennen. Der der Reichsidee anhaftende innere Widerspruch erzeugt in der Seele des Reichsvolkes eine Schizophrenie, durch die sich dieses von allen übrigen Völkern unterscheidet, ausgenommen vom jüdischen Volk, wenigstens von dem Augenblick an, da die Israeliten einen König über sich setzen wollten wie ihn die anderen Völker auch haben.

Aus seinem eignen Widerspruch heraus muss das Reichsvolk sich ständig selber negieren und aufheben. Indem es geistlich sein will, kann es nicht weltlich und geschichtlich sein wollen und umgekehrt. Von ihm, also von den Deutschen gilt erst in exemplarischer Weise, was Paul Schütz einmal von chiliattisch gewordenen christlichen Menschenwesen überhaupt sagt: "Es nahm vom Evangelium nur die halbe Wahrheit. Und diese halbe Wahrheit gerät ihm immer neu zum Fluch der halben Wirklichkeit. In frivoler Selbsterlösung noch bezeugend die ganze Wahrheit: den Erlöser. Im falschen Reiche Gottes noch verkündend des Menschen ewige Bestimmung: in Gottes Reich."

Ein Säkularisationsprozess, ein fortschreitendes Sich-Entfernen von Gott und Sich- dem-Tode-Nähern in der gefallenen Welt. Darum muss auch schließlich die ganze Menschheit wie jeder einzelne Mensch immer mehr mit sich selbst in Konflikt geraten; denn das, was Gott geschaffen hat, was von ihm her ist, widerspricht seiner eigenen Wesenheit um so ausdrücklicher, je weiter es sich von ihm, dem Schöpfer entfernt. Dieser Widerspruch wird dann dort besonders peinlich in Erscheinung treten, wo das Nahe-bei-Gott-sein, sowie das Leben aus dem Wort Gottes angeblich die Substanz des Menschen oder eines Volkes ausmacht, und das eben trifft zu auf die Deutschen und auf die Juden. Nur bei diesen beiden Völkern liegt die Gottesnähe in der Volksidee beschlossen. Nicht in ihr beschlossen dagegen liegt die nationialistische Autoapotheose. Das Reichsvolk ist genau so wie das Kirchenvolk, mit dem es sich ja seinem Ursprung nach identifizierte, das übervölkische Volk, die nicht-nationale Nation. Darum war der Nationalsozialismus, ja bereits der preußisch-deutsche Patriotismus in seiner emotionalen Gestalt das denkbar Undeutscheste, das Zerrbild des Deutschseins, ein Monstrum.

Es war nicht leicht, es war sogar sehr schwer, ein Israelit oder ein Jude zu sein, weil damit der Verzicht gerade darauf verbunden war, worin sich ein Volk in der Geschichte zu gefallen pflegt, auf "Gestalt und Schöne", auf politische Macht wie sie die Ägypter, die Perser und die Römer, sowie auf alle Herrlichkeit der Kultur wie sie im Abendland vor allem die Griechen besaßen, auf Ruhm und Gloria. Noch weit schwerer aber als ein Jude ist es, ein Deutscher zu sein, ja das ist im Grunde überhaupt unmöglich; denn wenn ein Jude seinem göttlichen Auftrag gemäß selbst auf alles verzichtet, was nach nationaler Größe aussieht, so kann er doch noch immer, ja gerade dann erst recht ein "rechter Israeliter" bleiben, "in welchem kein Falsch ist"(Joh. 1, 47), nämlich ein Gotteskämpfer nach dem Vorbild seines Vaters Jakob; der Deutsche aber müsste, um das zu sein, wofür er sich ursprünglich entschieden hat, nämlich ein "rechter Christ", auf seinen Ursprung als Reichsbürger selbst verzichten und so jeden Boden unter den Füßen verlieren. Darum ist das deutsche Nationalgefühl so überaus labil, darum sind die Deutschen so sehr anfällig für jeden Einfluss von außen, vor allem von ihren westlichen Nachbarn. Fichte glaubte den Grund dafür im germanischen Nationalcharakter suchen zu dürfen, wenn er in seiner 5. Rede an die deutsche Nation sagte: "Nämlich die Römer, welche anfangs den Griechen gegenüber, sehr unbefangen jenen nachsprechend, sich selbst Barbaren und ihre eigene Sprache barbarisch nannten, gaben nachher die auf sich geladene Benennung weiter und fanden bei den Germaniern dieselbe gläubige Treuherzigkeit, die erst sie selbst den Griechen gezeigt hatten. Die auf ehemaligem römischen Boden Eingewanderten wurden es nach allen ihren Vermögen. In ihrer Einbildungskraft bekam aber barbarisch gar bald die Nebenbedeutung gemein, pöbelhaft, tölpisch, und so ward das Römische im Gegenteil gleichgeltend mit vornehm." Fichte redet aber hier nicht von den Deutschen, sondern von jenen germanischen Stämmen, die zur Zeit der Völkerwanderung in Italien, Spanien, Gallien und Britannien einfielen und sich dort ansiedelten. Er suchte dann den Grund für die Fremdseligkeit auch noch der Deutschen seiner eigenen Zeit in ihrem Minderwertigkeitsgefühl der überlegenen romanischen Kultur gegenüber. Darin aber irrt er; denn hier handelt es sich vielmehr um die sich aus der Zwiespältigkeit des Reiches und des Reichsvolkes als des "christlichen" ergebende wurzelhafte Unsicherheit, die durch keine Art vom Assimilation jemals aufgehoben werden kann und auch nicht aufgehoben werden soll, weil die bleibende Unsicherheit und Unruhe das Beste und Positivste an diesem scheinbar so negativen Phänomen ist. Die nicht zu leugnende Tatsache, dass der Deutsche mit besonderer Intensität zum Ausländischen hinneigt, geht zurück auf das geheime Bedürfnis, sich vor anderen wie auch vor sich selber zu maskieren, um sich nicht als den sehen zu müssen und als der gesehen zu werden, der man in Wahrheit ist: als der nackte Sünder vor Gott, wozu er sich durch den christlichen Anspruch im Tiefsten aufgerufen erkennt. Das steht natürlich sehr im Gegensatz zum Idealismus Fichtes, der ja meint, der Deutsche könne erst durch das Ablegen jedes fremdnationalen Flitters zu seiner eigentlichen Herrlichkeit hindurchfinden. Der wahre Sinn der deutschen Reformation, der Reformation Martin Luthers ist eben die Aufdeckung der Sündigkeit als des Kernes der empirischen gefallenen Menschennatur, worüber an seiner besonderen Stelle noch zu reden sein wird.

 

Reich und Kirche

 

Heiliges Römisches Reich und römisch-katholische Kirche sind nur die beiden verschiedenen Seiten derselben Medaille. Zur Kirche gehört das Reich als weltliche und zum Reich die Kirche als geistliche Ergänzung. Man könnte auch sagen: Im Reich findet die Kirche ihre weltliche und in der Kirche das Reich seine geistliche Ausprägung. Natürlich gilt das nicht von der Kirche überhaupt, nicht von der Kirche als Corpus Christi im Sinn des NT, sondern bloß von dieser besonderen Kirche des römischen Papstes, von der schon an sich nach dem Prinzip der analogia entis in die Welt hineinstrebenden und sich in der Welt fortsetzenden, die Welt, so wie sie ist, heiligenden Kirche als kontinuierliche Mittlerin zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung. Der Vorwurf der partiellen Säkularisation trifft darum auch diese Kirche genauso wie das Reich. Himmel und Erde kommen hier einander auf halbem Weg entgegen. Der Himmel senkt sich herab, die Erde hebt sich empor wie Urbild und Abbild in der platonischen Vorstellungswelt. Von oben und von unten kreuzen sich die beiden Schwerter nicht zum Gefecht, sondern zu einer harmonischen heraldischen Figur. Im Kreuz der Schwerter erscheint die göttliche Ordnung wieder hergestellt zu sein. In hoc signo vinces!

Das Verhältnis zwischen dem heiligen Reich und der römischen Kirche lässt sich etwa vorstellen unter dem Bild eines Kegels mit einem darüber gestülpten, die gleiche Kreisbasis deckenden Zylinder. Das Reich wäre der Kegel mit seinem Kaiser als Spitze. Hier fällt alles in den Bereich des Sichtbaren und des Irdischen. Die Kirche dagegen erscheint symbolisch dargestellt durch den Zylinder, d.h. durch einen Kegel, der seine Spitze, nämlich Gott oder Christus, in der Unendlichkeit, in der Transzendenz hat. Freilich bleibt da noch die Frage nach dem Papst offen. Gehört er zu jenem Kegel oder zu diesem Zylinder? Offenbar schwebt er irgendwo zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Spitze und bleibt damit zweideutig. "Der weltgeschichtliche öffentliche und symbolische Akt, der dies einander Entgegenwachsen der beiden Gewalten zum Ausdruck brachte, war die Kaiserkrönung Karls in Rom Weihnachten 800." So wieder der typisch katholische Denker Alois Dempf ("Sacrum Imperium"). Wird die Kirche mit dem Papst als Oberhaupt nicht als geistliches, sondern als weltliches Gebilde verstanden, so kehrt sich das Verhältnis zum Staat, bzw. zum Reich um. Nun ist das Reich der Zylinder als die Schutzmacht über der sichtbaren Kirche. So, in dieser Wechselbeziehung schon zur Zeit Karl des Großen verstanden, bis hin zu Wilhelm von Occham, der sich in den Schutz Ludwigs, des Bayern begab mit den Worten: Tu me defendas gladio, ego te defendam calamo (Du mögest mich mit dem Schwert, ich möge dich mit dem Schreibrohr verteidigen).

Hören wir weiter Dempf: "Die Königssalbung Pipins nach dem Vorbild anderer germanischer Staaten und des Alten Testamentes verfestigte das Königtum religiös und verpflichtete es zugleich der religiösen Macht, mit der es nun im Bunde stand, und zwar der höchsten Autorität der Kirche selbst, dem Papsttum. Dieser Rückverpflichtung des Königtums entspricht die Donatio Pipini, die Rechtsbestätigung des Kirchenstaates oder besser der Kirchengemeinde, der Kommune von Rom unter der Leitidee des Regale und des königlichen Schutzes. Das Papsttum erscheint damit unter die Grundherrschaften des fränkischen Reiches eingereiht."

So verbindet sich also mit dem fränkischen Staat und sodann mit dem Reich einerseits die Heiligung der politischen Macht und andererseits die Verweltlichung des geistigen Hirtenamtes. Die christliche fides, "dieser Zentralbegriff der christlichen Verkündigung erfuhr eine Wortangleichung und bald auch eine Inhaltsangleichung an die germanische fides."

Das ist sehr historisch, aber kaum sehr theologisch gedacht. "Die Kirche ist eine Volksgemeinschaft, die epochale weltgeschichtliche Gemeinschaft der Erfüllung der ganzen Offenbarung des Gotteswillens." "Es beginnt, trotzdem das Reich ewig, bleibend und unerschütterlich ist, eine neue Geschichtsbewegung . . . Damit ist aber ein universales Kulturideal und Bildungsideal aufgestellt, das jeden Einzelnen der Gemeinschaft zur Volkspersönlichkeit bestimmt."

Diese wenigen Sätze genügen, um zu zeigen, wie hier die Grenzen zwischen Civitas Dei und Civitas terrena, Reich Gottes und Reich von dieser Welt, Himmel und Erde, Christlichem Glauben und Kultur, Kirche und Staat systematisch verwischt werden. Das eschatologische Moment der Verkündigung wird, wenn nicht vollkommen ausgeschaltet, so doch mindestens bis zur Unkenntlichkeit bagatellisiert. Das ist reinster Thomismus, der nichts mehr wissen möchte von der augustinischen Fremdlingschaft der Kirche in der Welt und in der Geschichte.

Wie die abendländische Philosophie des Mittelalters überhaupt, so erreicht auch die christliche Reichsphilosophie ihren Höhepunkt im 13. Jahrhundert. Alle Gegensätze erscheinen, wenn schon nicht gänzlich überwunden, so doch relativ ausgeglichen und versöhnt, zwar nicht in der Wirklichkeit, aber wohl in der Theorie, in der offiziellen Lehre und in der ästhetischen Illusion. Das eben macht ja die "Klassizität" dieses hochmittelalterlichen Jahrhunderts aus, in dem nichtsdestoweniger das Reich von den Wehen des Interregnums geplagt und durchschüttelt wird. Der Streit zwischen Realismus und Nominalismus ist gemildert. Ebenso der zwischen Vernunft und Glaube. Die gotische Baukunst stellt, vor allem in ihrem Stammland Frankreich, die Harmonie zwischen Außen und innen her, zwischen Außenraum und Innenraum. Die beiden Tortürme erheben sich friedlich nebeneinander. Das Reich ernüchtert sich mehr und mehr zum Staat, die Kirche zu einer Kirche in der Welt, zu einer Anstalt für "moralische Aufrüstung" des alltäglichen Lebens. Die kaiserliche und die päpstliche Macht halten einander das Gleichgewicht, allerdings nicht gerade in friedlichem Sinn. Der Staufenkaiser Friedrich II. auf der einen, die Päpste Innozenz III. und Gregor IX. auf der anderen Seite. Der Papst erklärte den Kaiser, der Kaiser den Papst für den Anti-Christ, aber dieser Gegensatz ist sozusagen ein "Gegensatz in Koordination". Der Antichrist zeichnet sich durch seine Unheiligkeit aus, die jedoch im Glanz der Heiligkeit erstrahlt, der Satan verstellt sich zum Lichtengel (2. Kor. 11, 14). Der Kaiser wirft dem Papst seine Weltlichkeit, der Papst dem Kaiser umgekehrt dessen angemaßte Göttlichkeit vor. So treffen sich beide auf gleicher Höhe, genau wie die beiden Tortürme; denn die Kunst drückt ja niemals die Wahrheit, sondern die Sehnsucht ihrer Epoche aus, also geradezu das Gegenteil dessen, was tatsächlich ist, und träumt von ihrer Erfüllung, so als ob sie schon da wäre.

Der Gegensatz zwischen Kaisertum und Königtum einerseits und der zwischen Papst und Kaiser andererseits entspricht der Dialektik von Realismus und Nominalismus. Das Kaisertum als gleichsam überempirisch ideelle Einheit allen Herrschertums stellt als "reale" der damaligen Philosophie sich jenseits des Zeitlichen, wogegen das erbliche Königtum der grob dringlichen Welt und damit der Ontologie des Nominalismus entspricht. Dasselbe gilt vom Verhältnis des Papsttums zum irdischen Herrschertum überhaupt, den Kaiser inbegriffen.

In der Spitze der Kirche, d.h. im römischen Papst ist das Reichsvolk gewissermaßen außer sich und über sich und damit allen nationalen, überhaupt allen politischen Grenzen enthoben. Es negiert sich selber seiner Volkheit nach, ähnlich wie in der Anerkennung Jahwes als des einen wahren Gottes, außer dem es keinen anderen gibt, das Volk Israel im Alten Bund sich als Volk unter Völkern aufhebt. Die Kirche ist an gar nichts gebunden oder sollte doch an gar nichts gebunden sein, weder an den Boden noch an das Blut noch an die Sprache, auch nicht natürlich an die lateinische. Nur so könnte sie sich als vollkommen losgelöst von allem Irdischen und als Raum der vorweggenommenen Erlösung erweisen, als die Gemeinde des geistlichen Israel, des dem Reich Gottes entgegenwandernden Volkes. Zwar bleibt der Kirche in ihrer Verkündigung keine andere Möglichkeit als auf die einzelnen Volkstümer und Volkskulturen Rücksicht zu nehmen, wenn sie überhaupt verstanden werden will, aber indem sie sich so verhält, bejaht und bekräftigt sie keineswegs das einzelne Volkstum, etwa als "Schöpfungsordnung" oder dergleichen, sondern hebt vielmehr umgekehrt alles Einzelne in seiner besonderen Sprache auf, zugunsten der Ekklesia, in der es weder Juden noch Griechen gibt.

Von solcher Einsicht ist freilich die Kirche des Mittelalters, gerade auch des Hochmittelalters in ihrem Selbstverständnis weit entfernt. Einmal fordert der Papst, wie vor allem Gregor VII., für sich auch die politische Oberhoheit, ein andere Mal nimmt der Kaiser für sich auch geistliche Rechte in Anspruch; denn hier wie dort erscheint das Oberhaupt zu einer menschlichen Person verdichtet genauso wie der römische Cäsar. Das geht im Wesentlichen so weiter bis heute; denn immer noch gibt es Regenten, die die Weltanschauung bestimmen, sowie Priester oder Pastoren, die in die Politik hineinreden wollen. Zwischen dem eben genannten Gregor VII. und dem Kirchenpräsidenten Niemöller besteht da nur ein gradueller Unterschied. Allerdings muss zugegeben werden, dass man die Bedeutung des Bußganges Heinrichs IV: nach Canossa zu Gregor VI. unterschätzt, wenn man darin nichts weiter sehen will als bloß die Tragödie (oder vielleicht auch Komödie?) des in seinem Kampf gegen die päpstliche Macht unterlegenen Kaisers. Die Buße Heinrichs erinnert vielmehr an die Selbstdemütigung Davids unter die Hand Gottes nach der Strafpredigt des Propheten Nathan (2. Sam. 12). In beiden Fällen nämlich geht es doch zutiefst um den Durchbruch des Eschatologischen durch die Hülle des in die zeitliche Geschichte verstrickten und dem Dämon der irdischen Macht verfallenen Königtums. Diesen symbolischen Sinn behält das Ereignis von Canossa auch dann noch, wenn weder der Kaiser noch der Papst ihn erkannt hat.

Nicht nur Gregor VII., die meisten Päpste des Mittelalters und wahrscheinlich nicht nur des Mittelalters, waren politisch verdorben. Das lag nicht an ihrer besonderen menschlichen Fragwürdigkeit, sondern an ihrem Amt als Oberhirten einer von Anfang an in die Geschichte eingegangenen und selbst geschichtlich gewordenen Kirche. Aber vielleicht gehört es gerade zur Barmherzigkeit Gottes, der die Menschheit erlösen will, dass er die Kirche politisch verderben lässt; denn eben diese abgefallene, in die Kirche und Reich entartete Christenheit wird zum Werkzeug der Ausbreitung des Evangeliums. Kein Missionar wäre jemals nach Afrika zu den Negern, nach Amerika zu den Indianern und schon zu den germanischen Stämmen im Norden Europas gekommen, wenn ihm nicht die portugiesischen, die spanischen, die angelsächsischen oder fränkischen Eroberer, die ja alle entartete Christen waren, vorausgegangen und die Wege bereitet hätten, so wie der Jesus im Fleisch auf den Straßen Judäas dem Auferstandenen vorausgegangen ist. Wie Jesus Fleisch annehmen musste, um den Fleischlichen begegnen zu können, so musste die Kirche mit Hilfe des Reiches, des weltlichen Schwertes sich ausbreiten, d.h. politisch mächtig werden, um zunächst zu den Ausgebreiteten, zu den heidnischen Söhnen Japhets, des Ausgebreiteten hinfinden zu können, dem verheißen wurde, dass er in den Hütten Sems wohnen sollte. Weltliche Ausbreitung ist verkehrte Ausbreitung, Knechtgestalt der göttlichen Ausbreitung des regnum Christi. Wie der Juden, so wird auch der Christen Fall immer wieder "der Welt Reichtum, und ihr Schade der Heiden Reichtum" (Röm. 11, 12). "Denn Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme." (11, 32). "Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!" (11,33). Wie Paulus sich sehr gehütet hat, die Juden zu verdammen, so werden auch wir unser Urteil über die alte Kirche und das ihr zugehörige heilige römische Reich zurückhalten müssen.

 

Die Juden im Mittelalter

 

Es ist nur selbstverständlich, dass die Juden im heiligen Römischen Reich ein Fremdkörper bleiben mussten, und zwar ein durchaus negativ beurteilter, noch weit mehr als schon früher im Reich Konstantins und seiner Nachfolger. Wer Reichsbürger sein wollte, konnte wohl in nationaler Hinsicht alles mögliche sein, Germane, Kelte, Sklave, Magyaren usw., er musste aber jedenfalls unbedingt getaufter Christ sein und durfte schon gar nicht einer Religionsgemeinschaft angehören, die ihrer innersten Natur nach die Messianität Jesu nicht zugeben konnte. Das alles gilt im Mittelalter übrigens nicht nur von Reich allein, sondern darüber hinaus auch von allen europäischen christlichen Nationalstaaten, die, obgleich politisch unabhängig, doch gleichfalls vom Reichsgedanken geprägt waren, wenn nicht sogar, wie Frankreich, sich vom Reich losgelöst hatten.

Die in allen vier Evangelien in verschiedener Form erwähnten Worte Jesu von der Zerstörung des Tempels und seinem Wiederaufbau durch ihn, lauten nach Mk. 14, 58: "Ich will den Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht sei." Johannes (2, 21) fügt hinzu: "Er aber redete von dem Tempel seines Leibes." Darunter lässt sich sowohl der Auferstehungsleib im Gegensatz zum gekreuzigten und begrabenen Leib Jesu wie auch das Israel nach dem Geist des NT, die Kirche im Gegensatz zum Israel nach dem Fleisch des AT, zur Synagoge verstehen, weil die Gemeinde so und so "Leib Christi" ist. Wenn nun im Anfang des Mittelalters die Christenheit als geschichtliches Reich, als politisches Gebilde konstituiert, so bedeutet das ihre Rückkehr auf die Stufe des AT, des sterblichen Leibes Christi, des Israel nach dem Fleisch, also den Wiederaufbau des mit Händen gemachten Tempels, der von Jesu selbst abgebrochen wurde, den Abfall aus dem geistlichen in den weltlichen Bereich, so dass sich nun Christen und Juden als Konkurrenten auf dem gleichen Niveau begegnen. Das Volk des Reiches, das deutsche Volk wird damit gleichsam zu einem zweiten jüdischen Volk und das um so mehr, je weiter seine Säkularisation ins nur noch Politische fortschreitet, bis einander am Ende gar nicht mehr zwei religiöse, sondern zwei nationale Größen als Rivalen gegenüberstehen.

In einer Rede aus dem für Deutsche und Juden so verhängnisvollen Jahr 1933 sagt Martin Buber, dass die Juden heute "geistseelisch hundertfältig vermischt sind, eingemengt in das Leben, die Sprache, die Strukturen, die Geschichte der Völker . . ., in besonderer Steigerung bei den deutschen Juden, deren Begegnung mit dem deutschen Volk eine elementare, ernste, schicksalhafte, fruchtbare und tragische gewesen ist. Es wäre leichtfertige Willkür, sich über dieses großartig und unheimlich Faktische hinwegzusetzen. Auch die von hier nach Palästina gehen, um in hebräischer Gemeinschaft hebräisch zu leben, tragen in ihrer Beschaffenheit deutsches Seelengut mit hinüber." In demselben Vortrag wird von den Juden gesagt, sie seien "durch keinen völkischen Begriff zu umreißen, - einst als Glaubensgemeinschaft Volk geworden." Eben das gilt aber auch vom Reichsvolk, und nur daraus lässt sich überhaupt - was Buber freilich nicht weiß - die besondere unvergleichliche Beziehung zwischen diesem und den Juden erklären, eine Beziehung, die sich je nachdem als Anziehung oder als Abstoßung, jedenfalls nicht wie bei anderen Völkern als gleichgültiges Nebeneinander äußern kann.

Franz Kafka, der ebenso wie Buber ja auch ein deutscher, genauer gesagt ein österreichischer und also ein Jude des alten Reiches war, bemerkt: "Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle anderen ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradies vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück." (Ges. Werke, ‚Hochzeitsvorbereitungen auf dem Land’). Das Zweite ist richtig. Die Ungeduld ist die Sünde des Messianismus, also des Juden und des politisch-nationalistisch gewordenen Deutschen. Gegen die Ungeduld polemisiert auch Luther mit seinen bekannten Worten vom Apfelbäumchen. Bei Kafka heißt es weiter: "Wenn es möglich gewesen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es wäre erlaubt worden." Dann nämlich wäre der Bau kein chiliastisches Werk gewesen, kein Werk der Ungeduld." Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg! Was wir Weg nennen, ist Zögern." Nur wenige Christen haben so christlich gedacht.

Für die anderen Völker haben Deutsche wie Juden etwas Rätselhaftes und beinahe Unheimliches an sich, weil sie in ihrer Eigenart aus ihrer natürlichen geschöpflichen Existenz nicht recht zu verstehen sind. Beide nämlich haben ihren eigentlichen Schwerpunkt im Religiösen, besser gesagt im Transzendenten, wenn auch jedes Mal auf einer anderen Basis. Man traut ihnen gelegentlich ein geheimes Machtstreben, ja vielleicht sogar einen gefährlichen Willen zur Weltherrschaft zu; denn anders kann man sich das überempirische Moment ihres Wesens, ihre "Gezeichnetheit" nicht deuten, solange man selbst bloß an das Empirische und rational Fassbare glaubt. Selbstverständlich hat der Jude diese gewisse Unheimlichkeit auch und gerade für den Deutschen, wahrscheinlich noch mehr für Franzosen, Engländer, Italiener usw., weil die jüdische Religiosität, auch wenn sich der Jude ihrer gar nicht bewusst ist, ständig an die christliche und also an die deutsche appelliert. Sie wird ihm, dem Deutschen zur Mahnung, zur Frage, zum Vorwurf. Die bloße Existenz des Juden führt ihm die eigene Unerlöstheit und die Unerfülltheit seiner Aufgabe drastisch vor Augen. Den Juden gibt es, weil du, Christ, du Deutscher nicht wahrhaft christlich bist. Indem du ihn ansiehst und er dich ansieht, erkennst du dein Nochnicht, das Ungenügen deines Soseins, deine Unzulänglichkeit. Und das muss der Deutsche als Christ katexochen, vielmehr als der, der dieser Christ katexochen sein will und sein wollen muss von seinen Urvätern her, auch und vor allem, wenn er sich heute dagegen sträubt, besonders peinlich empfinden. Mit der Peinlichkeit aber wächst natürlich die Abneigung, der Hass gegen den, der sie auslöst, gegen den Juden.

Die Judenverfolgungen nehmen fast immer an Intensität zu, wenn die Christen militant werden, wie z. B. zur Zeit der Kreuzzüge. "Es war die aus abendländischer Wurzel gewachsene Idee "des heiligen und gerechten Krieges", die in den Kreuzzügen zum Durchbruch kam. Der Kampf gegen die ‚Ungläubigen’ war Gottes Gebot. Juden und Ketzer waren darin mit eingeschlossen, der sakramental-mystische Charakter der Epoche wirkte in die politisch-religiösen Anschauungen der Glaubensstreiter hinüber." (Karl Kupisch, ‚Das Volk der Geschichte’). Der Geist des Islam, des "Heiligen Krieges" unter der Fahne des Propheten lebte auch in der christlichen Welt auf. In Frankreich und in Westdeutschland kam es zu den ersten furchtbaren Judenmetzeleien, als die französischen Kreuzritter über den Rhein nach dem "gelobten Land" zogen und die Deutschen sich ihnen anschlossen. Aus England wurden die Juden im Jahre 1290, aus Frankreich im Jahre 1394 vertrieben. In Deutschland haben die Kaiser nach Maßgabe ihrer, meist finanziellen Interessen die Judenpogrome teils unterstützt, teils zu verhindern gesucht. Ungefähr das Gleiche gilt auch von den Bischöfen und dem niederen Klerus.

Das deutsche Volk unterscheidet sich vom jüdischen unter anderem dadurch, dass ihm das Reich als Land, die Heimat, das Territorium oder wie man sonst sagen will, das Primäre ist, während die Juden nach ihrer Zerstreuung und zum Teil auch schon vorher, ein Volk ohne Heimat, ein Nur-Volk, ein Nomadenvolk sind, das Volk der Hebräer, der Fremdlinge und Wanderer. Von Anfang an sollte das israelitische Volk hier keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige suchen. Wann immer es, da oder dort, als ganzes oder auch nur teilweise, allzu sesshaft werden wollte, wurde es wieder vertrieben und in die Heimatlosigkeit, in die Verbannung geschickt. Es sollte die Götzen des Bodens, des Landes, die "Baale" meiden. Aber es suchte sich dafür allerdings andere Götzen oder auch nur einen anderen Götzen, den Götzen des Blutes, der auch in der Wüste mitwandern kann. Er war es, so hatte es den Anschein, der das Volk aus der ägyptischen Knechtschaft, aus der Versklavtheit an das Land herausgeführt und dann doch in die andere Versklavtheit an das Blut, an die nur leibliche Abstammung von Abraham, Isaak und Jakob hineingeführt hatte. Die jüdische Religion der nachchristlichen Zeit ist sicher nicht Baalsdienst im Sinn der Vergottung eines Genius loci. Genau dahin aber tendiert die christliche Reichsideologie, weshalb der sesshafte Christ, in erster Linie natürlich der Bürger des Reiches, im Juden seinen Antipoden wittert und dazu neigt, ihn zu vertreiben oder gar mit dem Schwert auszurotten. Sobald er das Schwert ergreift und für ein taugliches Instrument der Glaubensbewährung hält, fällt sein Blick zuerst auf den Juden als auf seinen nächsten Widersacher. Man kann die Heimat nicht verteidigen ohne sich gegen den zu wenden, der, ob er will oder nicht, das lebendige Nein zur irdischen Heimat überhaupt ist.

Als ich zu Beginn des ersten Weltkrieges im August 1914 zum erstenmal Gelegenheit hatte, in Galizien und dann im russischen Polen polnische Juden zu sehen, beschlich mich das bedrückende und mir damals völlig unerklärliche Gefühl, dass diese Menschen mit ihren langen Bärten, ihren Schläfenlocken und Kaftanen gar nicht in die Landschaft passen wollten, ja das Bild der Landschaft, jeder Landschaft geradezu störten oder vielleicht zerstörten. Niemals überkam mich eine auch nur annähernd ähnliche Empfindung, wenn ich vorher in meiner österreichischen Heimat oder sonst wo in Westeuropa den gleichfalls langbärtigen Kapuzinermönchen in ihren schwarzen Kutten begegnete. Sie störten das Bild keineswegs, sie fügten sich sogar in die Landschaft als ihr durchaus angemessene Gestalten. Ich glaube den Grund für diesen eigenartigen Unterschied darin suchen zu dürfen, dass diese Mönche als Ausdruck des katholischen Lebensgefühls den Genius loci, den "Baal" irgend eines Landes niemals ebenso radikal verneinen wie jene orthodoxen Juden. Der Katholizismus, vor allem der thomistische, hat seinen, wenigstens bedingten Frieden geschlossen mit den Genien der diesseitigen Existenz. Die Fremdling- und Pilgrimschaft wird doch nicht so ganz ernst genommen. Auch das Mönchtum und Asketentum steht noch mit beiden Füßen auf dieser Erde und bleibt ein Asketentum innerhalb der Welt. Es ist eben das Asketentum der Kirche, die das Reich zu ihrem Partner hat, die neben den Mönchsorden auch die Ritterorden kennt, die Kirche der zwei Schwerter, des "In hoc signo vinces!", in der Märtyrertum und Heldentum ineinander fließen und kein scharfer Unterschied gemacht wird zwischen den Engeln Gottes und den lichten heidnischen Gottheiten. Ganz anders das Judentum. Zwar sind die Juden des christlichen Abendlandes, auch wenn sie Kaftan und Schläfenlocken tragen, gewiss keine Asketen im strengen Sinn, sie kämpfen auch gar nicht mehr bewusst gegen die Baale, aber dieses Kämpfertum, dieses kompromisslose Nein zu allem Heidnischen ist ihnen so sehr in ihr Wesen eingewachsen, dass sie es auch zum Ausdruck bringen müssen, sobald sie überhaupt als Juden hervortreten. Ich bin ein Jude, das heißt schon: Ich habe nichts zu tun mit der Landschaft, auf deren Boden ich zufällig stehe. Wo ich erscheine, dort flieht der Genius loci.

Mit Thomas von Aquin, der, wie die ganze Hochscholastik, die Rationalisierung und Säkularisierung der christlichen Theologie mit allen Kräften vorangetrieben hat, wurde, obwohl er selbst den Rationalismus des jüdischen Aristotelikers Maimonides übernommen hatte, der Antisemitismus in der katholischen Kirche sozusagen kanonisiert und dogmatisiert. Dieser zweifellos große Mann hat selbst gelehrt, dass die christlichen Fürsten das Recht haben, über das Eigentum der von Gott zur Sklaverei verurteilten Juden nach eigenem Gutdünken zu verfügen. Vergessen darf dabei aber freilich nicht werden, dass solche Verfügungen keine Anwendung mehr fanden auf den getauften Juden, der eben nicht mehr als Jude, sondern als vollwertiger Christ (und Reichsbürger) galt. Es handelte sich also um einen rein konfessionellen Antisemitismus, der im Gegensatz zum jüngsten Rassenantisemitismus sein Urteil oder seine Verurteilung immerhin noch von einer freien Entscheidung abhängig machte und so die menschliche Würde nicht verletzte. Den Menschen zu entrechten und zum Sklaven zu machen, weil er einen anderen, wenn auch falschen religiösen Glauben hat, weil der zu den "Ungläubigen" gehört, ist zwar ganz sicher nicht christlich, schon gar nicht, wenn es gerade um den Juden geht, aber doch wenigstens noch nicht radikal antihuman.

Noch einmal muss hier daran erinnert werden, dass den Juden im Mittelalter jeder Grundbesitz, sowie die Ausübung eines bürgerlichen Gewerbes verwehrt wurde. Nur das Geldgeschäft war ihnen erlaubt. Sie wurden so systematisch zu Händlern, Wechslern und Wucherern erzogen, und zwar von den "Christen" erzogen. Somit haben auch diese die Schuld an dem Resultat ihrer Erziehungsarbeit auf sich zu nehmen. In seinem "Dialogus inter Philosophum Judaeum et Christianum" lässt Peter Abaelard den Juden sagen, mit dessen Meinung er sich hier identifiziert: "Äcker und Weingärten können die Juden nicht haben, weil niemand da ist, der ihren Besitz garantiert. Also bleibt ihnen als Erwerb nur das Zinsgeschäft, und dieses macht sie wieder bei den Christen verhasst." (Nach Karl Thieme, Judenfeindschaft). Sogar manche Kaiser sahen sich genötigt, diesen Zuständen in menschlicher Weise Rechnung zu tragen. So heißt

Reisner: Juden und das Reich